Der Hund im Linienbus | Ein alter Hund fährt jeden Morgen mit dem Bus bis eine Frau ihm folgt und alles verändert

🐾 Teil 6: Die Bank im Wald

Der Morgen war ungewöhnlich hell. Ein klarer Himmel spannte sich über die Stadt, und das Licht ließ die Häuser an der Wilhelmshöher Allee beinahe freundlich wirken. Margarete spürte, dass dieser Tag anders werden würde, auch wenn sie nicht wusste warum.

Tabor wartete wie immer an der Haltestelle. Doch diesmal sprang er nicht sofort in den Bus, als die Türen aufgingen. Stattdessen blieb er kurz stehen, sah sie an, und Margarete meinte, in diesem Blick eine Aufforderung zu erkennen. Fast so, als wolle er sagen: Heute ist mehr als eine Fahrt.

Sie stieg ein, setzte sich neben ihn, und die Fahrt begann. Der Bus fuhr die gewohnte Strecke, doch Margarete spürte, dass etwas in der Luft lag. Helene stieg an einer der späteren Haltestellen zu. Sie trug einen Korb am Arm und lächelte schwach, als sie Margarete sah.

„Er ist heute unruhig“, sagte sie. „Gestern Nacht lief er immer wieder zum Gartentor. So, als hätte er etwas vergessen.“

Die Fahrt endete wie gewohnt am Stadtrand. Doch diesmal bog Tabor nicht gleich in Richtung des Gartens ab. Er lief ein Stück die Straße hinunter, vorbei an den leerstehenden Werkhallen, die im Sonnenlicht noch verlassener wirkten. Margarete und Helene folgten ihm schweigend.

Nach einigen Minuten bogen sie auf einen schmalen Pfad ab, der in ein Waldstück führte. Der Boden war weich vom Regen, Vögel zwitscherten, und die Luft roch nach Erde. Der Hund ging zielstrebig, als kenne er den Weg genau.

„Ich war hier seit Jahren nicht mehr“, murmelte Helene. Ihre Stimme klang, als hätte sie Mühe zu atmen. „Wilhelm und ich sind früher oft diesen Pfad gegangen. Es war sein Lieblingsweg.“

Margarete blieb einen Moment stehen. Ihr Herz pochte schneller. Auch sie erinnerte sich. Sie und Klaus hatten hier in den Achtzigern Spaziergänge gemacht, an Sonntagen, wenn sie aus der Stadt hinauswollten. Damals war der Wald voller Leben gewesen, Kinder hatten gespielt, Familien hatten Picknickdecken ausgebreitet.

Jetzt war es stiller, verlassener, doch die Spuren der Vergangenheit lagen in der Luft.

Der Pfad führte zu einer Lichtung. In der Mitte stand eine alte Bank, verwittert, von Moos überzogen. Tabor lief direkt dorthin, setzte sich und blickte die beiden Frauen an.

Helene ging langsam auf die Bank zu. Ihre Hände zitterten, als sie über das Holz strich. „Hier hat er mir einmal einen Antrag gemacht“, sagte sie leise. „Einfach so, ohne Ring, ohne alles. Er setzte sich neben mich, legte seine Hand auf meine und sagte: ‚Helene, warum machen wir es nicht für immer?‘ Ich habe gelacht, aber ich habe ja gesagt.“

Margarete setzte sich vorsichtig neben sie. Für einen Moment spürte sie, wie die Zeit sich auflöste. Sie erinnerte sich an Klaus, wie er hier mit ihr gesessen hatte, ein belegtes Brot in der Hand, das er mit ihr teilte. „Das ist ein schöner Platz“, sagte sie. Ihre Stimme war kaum hörbar. „Klaus hat mich hier einmal geküsst, so fest, dass ich dachte, die Welt würde stillstehen.“

Die beiden Frauen schwiegen. Der Hund legte sich vor die Bank, den Kopf auf den Pfoten. Er schien zufrieden, als hätte er sie genau dorthin geführt, wo sie sein sollten.

Helene wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Ich habe diesen Ort gemieden. Zu viele Erinnerungen. Aber er… er hat mich zurückgebracht.“

Margarete nickte. „Vielleicht müssen wir uns erinnern, um weitergehen zu können.“

Die Sonne brach durch die Wolken und legte ein warmes Licht über die Lichtung. Für einen Moment war es, als wären die Männer noch da, unsichtbar, aber spürbar.

Helene zog ein kleines Buch aus ihrem Korb. „Ich habe lange nicht mehr geschrieben“, sagte sie. „Aber vielleicht sollte ich es wieder tun. Vielleicht kann ich ihm auf diese Weise nah bleiben.“

Margarete sah auf die Seiten, die leer waren. „Schreiben hilft. Ich habe es nie gekonnt. Aber vielleicht… vielleicht könnte ich es versuchen.“

Der Hund hob den Kopf, als hätte er die Entscheidung gehört. Sein Blick war ruhig, beinahe stolz.

Sie verbrachten den Nachmittag dort, auf der alten Bank. Sie sprachen über Wilhelm und Klaus, über die frühen Jahre, über kleine Dinge, die sonst niemand mehr kannte. Es war, als würden sie die Männer für einen Moment zurückholen, nicht durch Tränen, sondern durch Worte.

Als sie schließlich zurückgingen, war der Hund vorneweg. Sein Gang war schwer, doch in seinen Bewegungen lag etwas von Würde. Helene blieb kurz stehen und sah Margarete an. „Ich glaube, er weiß, was wir brauchen. Vielleicht mehr, als wir selbst es wissen.“

Margarete nickte. „Er führt uns nicht zufällig. Es ist, als würde er die Fäden halten.“

Wieder am Gartentor blieb Tabor stehen, drehte sich zu ihnen um und wartete, bis sie eingetreten waren. Helene stellte den Korb ab, und sie setzten sich in die Hütte.

Am Abend, bevor Margarete zurückfuhr, stand sie noch einmal draußen. Der Hund lag neben dem Tor, sein Blick in die Ferne gerichtet. Sie kniete sich nieder, legte ihre Hand auf seinen Kopf. „Danke“, flüsterte sie.

Seine Augen waren trüb, doch sie schimmerten im letzten Licht des Tages. Es war, als läge in ihnen eine Gewissheit, die weit über das hinausging, was Menschen verstehen konnten.

Auf der Rückfahrt durch die Stadt fühlte Margarete eine merkwürdige Klarheit. Der Hund hatte sie nicht nur zu Helenes Erinnerungen geführt, sondern auch zu ihren eigenen. Sie hatte begriffen, dass die Vergangenheit nicht verschwindet, sondern Wege findet, uns wieder einzuholen.

Und sie wusste, dass dies noch nicht das Ende war.

Morgen wird er uns an einen Ort bringen, den wir beide nie vergessen können.

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