🐾 Teil 7: Der Fluss, die Steine und das Loslassen der Trauer
Der nächste Morgen begann mit einem leichten Regen. Die Tropfen liefen über die Fensterscheiben, und die Straßen glänzten dunkel im frühen Licht.
Margarete zog ihren Mantel fester um sich, als sie das Haus verließ. In ihrer Brust lag eine Mischung aus Erwartung und Sorge. Der Hund hatte sie schon zu Orten geführt, die sie tief berührt hatten. Wohin würde er sie heute bringen?
An der Haltestelle wartete Tabor, das Fell von der Nässe dunkel, die Bewegungen etwas schwerer als sonst. Trotzdem sprang er in den Bus, als die Türen sich öffneten, und Margarete folgte ihm. Helene stieg ein paar Stationen später dazu. Sie wirkte blasser als sonst, doch ihre Augen leuchteten, als sie Tabor sah.
„Er hat heute eine andere Ruhe“, sagte sie. „Vielleicht weiß er schon, wohin wir müssen.“
Die Fahrt verlief stiller als gewöhnlich. Nur das gleichmäßige Rattern der Reifen und das Knarren der Sitze begleitete sie. Margarete hielt den Blick auf den Hund gerichtet, der zwischen ihnen lag. Er rührte sich kaum, doch seine Augen waren wach.
Am Stadtrand angekommen, ging er nicht in Richtung des Gartens und auch nicht auf den Waldpfad. Stattdessen wandte er sich zur alten Straße, die hinaus zum Fluss führte. Die beiden Frauen sahen sich an, dann folgten sie ihm.
Der Weg war länger als sonst. Sie gingen vorbei an Feldern, die im Regen glänzten, vorbei an verlassenen Höfen, bis sie das Rauschen des Wassers hörten. Der Fluss lag breit vor ihnen, die Fulda, dunkel und ruhig, nur gelegentlich von kleinen Wellen durchzogen.
Tabor ging direkt auf eine Stelle am Ufer zu, wo eine alte Bank stand, halb verrottet, überwachsen von Moos. Er setzte sich davor, sah die beiden Frauen an und legte sich dann nieder, als sei seine Aufgabe erfüllt.
Helene blieb wie angewurzelt stehen. Ihre Lippen bebten, und ihre Hände zitterten, als sie die Bank erkannte. „Hier… hier hat Wilhelm immer gesessen, wenn er nach der Arbeit heimkam. Er sagte, das Wasser beruhige ihn. Manchmal brachte er mich mit. Es war sein Ort.“
Margarete spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. Auch Klaus hatte den Fluss geliebt. Sie erinnerte sich an Sommerabende, als sie hier zusammen standen, barfuß im Gras, das Rauschen in den Ohren. Er hatte immer gesagt, das Wasser trage alles fort, auch Sorgen.
Die beiden Frauen setzten sich schweigend auf die Bank. Der Regen war schwächer geworden, und ein heller Streifen zeigte sich am Himmel. Das Wasser floss ruhig, gleichgültig gegenüber den Jahren, die vergangen waren.
Helene legte die Hände in den Schoß. „Ich habe diesen Ort gemieden, seit er starb. Ich konnte nicht mehr herkommen. Es war zu schmerzhaft. Aber Tabor… er wusste, dass ich zurückmusste.“
Margarete sah sie an. „Vielleicht führt er uns beide dorthin zurück, wo wir unsere Männer zuletzt ganz bei uns gespürt haben.“
Helene nickte langsam. „Es fühlt sich an, als wären sie nicht ganz fort. Als wären sie hier, im Rauschen des Flusses.“
Der Hund hob den Kopf, sah ins Wasser, dann wieder zu ihnen. In seinem Blick lag etwas Unausgesprochenes, etwas, das schwer zu deuten war. Es war, als würde er ihnen sagen: Ihr müsst euch erinnern, nicht fliehen.
Margarete nahm einen der alten Briefe aus ihrer Tasche, den sie noch nicht vorgelesen hatte. Sie faltete ihn auf und las ihn mit zitternder Stimme. Es war ein kurzer Brief, nichts Besonderes, und doch voller Leben. „Meine liebe Gretel, heute Abend grillen wir am Fluss. Bring dein Lächeln mit, das macht alles heller.“
Ihre Stimme brach, und sie senkte das Blatt. Helene legte eine Hand auf ihre Schulter. „Er hat recht gehabt“, sagte sie leise. „Ihr Lächeln macht es heller.“
Beide Frauen schwiegen wieder. Nur das Wasser sprach. Es war ein Schweigen, das tröstete, nicht bedrückte.
Nach einer Weile stand Helene auf. Sie ging ans Ufer, bückte sich und nahm einen Stein in die Hand. „Wilhelm hat hier oft Steine geworfen. Er sagte, jeder Stein trägt ein Stück Kummer mit sich fort.“ Sie warf den Stein ins Wasser, und er verschwand mit einem leisen Platschen.
Margarete tat es ihr gleich. Sie hob einen kleinen, runden Stein auf, hielt ihn einen Moment fest, als lege sie alles hinein, was sie loslassen wollte, dann warf sie ihn ins Wasser. Sie sah die Kreise, die sich ausbreiteten, bis sie unsichtbar wurden.
Der Hund stand inzwischen auf und stellte sich neben sie. Sein Fell war nass, doch er wirkte stark, beinahe feierlich. Margarete legte ihre Hand auf seinen Rücken.
„Danke“, flüsterte sie. „Dass du uns hierher gebracht hast.“
Helene nickte. „Ohne ihn wäre ich nie zurückgekommen.“
Der Regen hörte ganz auf. Die Sonne brach durch die Wolken, und für einen kurzen Moment spiegelte sich das Licht golden auf der Wasseroberfläche. Es war, als hätte der Fluss selbst ein Zeichen gegeben, dass etwas erlöst worden war.
Sie blieben noch eine Weile dort, bis der Wind kühler wurde. Dann machten sie sich auf den Rückweg. Tabor ging langsam, doch sein Schritt war fest. Er hatte sie geführt, und er wusste es.
Als sie am Gartentor ankamen, blieb Helene stehen. „Ich habe das Gefühl, dass er uns Stück für Stück an die Orte bringt, die wir verdrängt haben. Vielleicht will er, dass wir uns wieder an das ganze Leben erinnern, nicht nur an das Ende.“
Margarete nickte. „Und vielleicht will er, dass wir begreifen, dass die Erinnerung nicht Schmerz allein ist, sondern auch Wärme.“
Sie gingen in die Hütte, setzten sich an den Tisch. Der Hund legte sich an den Ofen, erschöpft, aber zufrieden. Margarete betrachtete ihn. Sein Fell war grau, seine Bewegungen schwer. Sie wusste, dass er alt war, vielleicht älter, als er sein sollte. Doch in seinen Augen lag eine Kraft, die über die Jahre hinausging.
Als sie am Abend den Bus zurücknahm, fühlte Margarete sich leichter. Nicht, weil die Trauer verschwunden war, sondern weil sie gelernt hatte, ihr einen Platz zu geben.
Und während die Lichter der Stadt am Fenster vorbeizogen, spürte sie, dass der Hund noch nicht fertig war.
Morgen wird er uns an etwas erinnern, das wir zu lange vergessen haben.