Der Hund im Linienbus | Ein alter Hund fährt jeden Morgen mit dem Bus bis eine Frau ihm folgt und alles verändert

🐾 Teil 8: Die Erinnerung an Jugendträume

Der April hatte die Stadt erreicht. Die Bäume zeigten erste Blätter, und der Regen der letzten Tage wich einer klaren, kühlen Luft.

Margarete wachte an diesem Morgen mit dem Gefühl auf, dass etwas Besonderes geschehen würde. Der Hund hatte sie und Helene bereits zu Orten geführt, an denen Schmerz lag. Vielleicht würde er sie nun dorthin bringen, wo Hoffnung verborgen war.

An der Haltestelle saß Tabor wie immer, doch er wirkte wacher als sonst. Seine Augen funkelten, und er stand auf, sobald er Margarete sah. Im Bus setzte er sich neben sie, sein Körper warm und schwer an ihrer Seite. Helene stieg einige Stationen später zu, und als sie sich zu ihnen setzte, bellte Tabor leise, als wollte er sie beide zur Eile mahnen.

„Heute hat er etwas vor“, sagte Helene und strich über sein Fell.

Der Bus fuhr wie immer bis zur Endstation. Doch diesmal bog Tabor nicht zum Fluss oder in den Wald ab. Er lief eine andere Straße hinunter, vorbei an stillgelegten Werkstätten, bis sie vor einem Gebäude standen, das auf den ersten Blick unscheinbar wirkte. Es war eine kleine Schule, deren Fassade abblätterte. Der Schulhof war leer, die Fenster alt und trüb.

„Hier“, sagte Helene leise. „Hier bin ich zur Schule gegangen. Und später Wilhelm auch. Wir haben uns schon als Kinder gekannt.“

Margarete blieb stehen. Die Schule erinnerte sie an ihre eigenen Jahre, an Pausenhöfe voller Lärm, an Freundschaften, die sie längst verloren hatte. „Klaus hat oft davon erzählt, wie er heimlich im Unterricht Gedichte geschrieben hat“, murmelte sie.

Sie gingen über den Hof. Der Hund schnupperte an der Tür, die unverschlossen war, und drückte sie mit der Schnauze auf. Staubiger Geruch schlug ihnen entgegen, und das Echo ihrer Schritte hallte in den leeren Fluren wider.

„Ich war seit Jahrzehnten nicht hier“, sagte Helene. Ihre Stimme klang unsicher, als fürchte sie die Geister der Vergangenheit.

Sie folgten Tabor in ein Klassenzimmer. Alte Holzbänke standen noch da, manche zerkratzt, manche mit eingeritzten Namen. An der Wand hing eine Tafel, die grün, aber verblasst war.

Der Hund setzte sich in der Mitte des Raumes hin und wartete. Sein Blick war ernst, beinahe feierlich.

Helene ging langsam zu einer Bank, strich über das Holz und las die eingeritzten Initialen. „W.R.“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Das war Wilhelm. Hier saß er immer.“ Sie lachte leise, ein Lachen, das zugleich traurig war. „Er hat mir damals kleine Zettel zugesteckt. Auf denen standen Rechenaufgaben – und heimliche Botschaften.“

Margarete setzte sich neben sie. „Klaus und ich haben uns in der Berufsschule kennengelernt. Er schrieb mir auch Zettel, aber mit Gedichten. Ich habe sie alle aufgehoben.“

Die beiden Frauen sahen einander an, und ein stilles Einverständnis wuchs zwischen ihnen. Sie waren nicht nur durch Verlust verbunden, sondern auch durch die Wurzeln des Lebens, durch die kleinen Gesten, die Liebe bedeuteten.

Helene holte aus ihrer Tasche ein kleines Heft hervor. „Ich habe es damals hier versteckt“, sagte sie. „Ein Tagebuch aus meiner Schulzeit. Ich hätte nie gedacht, dass es noch da ist. Aber sehen Sie.“ Sie öffnete die Seiten, und tatsächlich waren dort Einträge, vergilbt, aber lesbar. Darin standen Sätze, die von jugendlicher Sehnsucht und Träumen sprachen.

Margarete las einige Zeilen und spürte, wie sie lächelte. „Es ist schön, dass Sie das wiedergefunden haben. Manchmal vergessen wir, dass wir mehr sind als nur unsere Trauer. Wir waren einmal jung. Wir hatten Träume.“

Helene nickte. „Ich habe all das vergessen. Erst der Hund hat mich zurückgeführt.“

Der Hund lag in der Mitte des Raumes, die Augen geschlossen, doch er wirkte nicht müde. Er wirkte wie jemand, der seine Aufgabe erfüllt wusste.

Plötzlich klopfte der Regen gegen die Fensterscheiben. Die beiden Frauen blickten hinaus und sahen, wie Kinder am anderen Ende des Hofes spielten. Offenbar nutzte ein Verein das Gelände für Nachmittagsprogramme. Ihr Lachen erfüllte die Luft und drang bis zu ihnen hinein.

Helene lächelte. „Das ist das Leben. Es hört nie auf. Selbst wenn wir denken, alles sei vorbei, lachen irgendwo Kinder. Und das ist richtig so.“

Margarete fühlte ein warmes Ziehen in ihrer Brust. „Vielleicht zeigt uns Tabor, dass wir uns nicht nur an das Ende erinnern sollen, sondern auch an den Anfang. An das, was Freude war.“

Sie blieben noch eine Weile in dem Klassenzimmer, sahen die alten Namen auf den Tischen, hörten den Regen und das Kinderlachen. Es war, als hätten Vergangenheit und Gegenwart für einen Augenblick ineinandergefunden.

Am Nachmittag gingen sie zurück. Auf dem Heimweg schien der Hund leichter zu laufen, fast jugendlicher, als hätte er Kraft daraus geschöpft, dass sie beide ihre Erinnerungen geteilt hatten.

Am Gartentor angekommen, blieb Helene stehen. „Heute war anders“, sagte sie. „Heute habe ich nicht nur an Wilhelm gedacht, sondern auch an das Mädchen, das ich einmal war. Ich habe vergessen, wie sie lachte. Aber jetzt… jetzt weiß ich wieder, dass sie noch in mir ist.“

Margarete nickte. „Ich habe auch etwas gespürt. Nicht nur Verlust, sondern auch Leben. Klaus würde wollen, dass ich mich daran erinnere.“

Der Hund legte sich an das Tor, die Pfoten ausgestreckt, und atmete tief. Es war, als würde er lächeln, ohne es zu zeigen.

Am Abend, als Margarete im Bus zurückfuhr, dachte sie lange über den Tag nach. Sie sah ihr Spiegelbild im dunklen Fenster und erkannte, dass ihre Augen weicher geworden waren. Sie hatte Tränen vergossen, ja, aber diesmal waren es nicht nur Tränen des Schmerzes. Es waren Tränen, die etwas lösten.

Und während die Lichter der Stadt vorbeizogen, wusste sie, dass der Hund noch nicht am Ende war. Er hatte sie durch Schmerz geführt, er hatte ihr Hoffnung gezeigt. Aber da war noch mehr, was er ihnen zeigen wollte.

Morgen wird er uns etwas offenbaren, das tiefer reicht als Erinnerung.

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