🐾 Teil 9: Zwei Gräber, ein Hund und die Versöhnung mit der Vergangenheit
Die Luft roch nach frischem Gras, als Margarete an diesem Morgen das Haus verließ. Der Frühling hatte nun mit aller Kraft Einzug gehalten, die Vögel sangen laut, und die Sonne stand hell über den Dächern. Dennoch lag in ihrem Herzen eine leise Unruhe.
Seit Tagen führte Tabor sie und Helene an Orte voller Erinnerungen. Es fühlte sich an, als baue er Schritt für Schritt eine Brücke. Doch wohin diese Brücke führte, wusste Margarete noch nicht.
An der Haltestelle saß der Hund, geduldig wie immer. Sein Fell glänzte im Licht, und trotz seines Alters wirkte er heute erstaunlich wach. Er erhob sich, als er Margarete sah, und sprang in den Bus. Sie folgte ihm, setzte sich neben ihn und spürte wieder diese stille Gewissheit, die von ihm ausging.
Helene stieg einige Stationen später dazu. Ihre Wangen waren gerötet, sie wirkte kraftvoller als in den vergangenen Wochen. „Er zieht uns weiter“, sagte sie, kaum dass sie saß. „Ich spüre es.“
Die Fahrt verlief ruhig, fast feierlich. Keiner von ihnen sprach viel, als wollten sie die Stille nicht stören. Nur das Brummen des Motors begleitete sie. Am Stadtrand stiegen sie aus, und der Hund führte sie diesmal auf einen Weg, der ihnen beiden unbekannt war.
Sie gingen durch eine schmale Straße, an deren Ende Felder begannen. Das Gras stand hoch, und ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich hindurch. Der Hund ging zügig, sein Kopf leicht erhoben, als wüsste er genau, wo er hinmusste.
Nach einer Weile erreichten sie einen alten Friedhof. Er lag still, umgeben von einer niedrigen Mauer, die an manchen Stellen bereits zerfallen war. Bäume spendeten Schatten, und die Grabsteine wirkten verwittert, von Moos überzogen.
Margarete blieb stehen. Ihr Herz zog sich zusammen. „Warum hier?“ flüsterte sie.
Der Hund ging unbeirrt weiter. Er führte sie zu einer bestimmten Stelle, vorbei an alten Steinkreuzen und verwitterten Platten. Schließlich blieb er vor einem Grab stehen. Der Stein war schief, doch die Inschrift noch lesbar. Wilhelm Riedel, 1939–2004.
Helene kniete nieder. Ihre Finger strichen über die Buchstaben, und ihr Körper zitterte. „Ich war seit Jahren nicht hier“, sagte sie leise. „Ich habe es nicht ertragen. Aber er… er hat mich hergeführt.“
Margarete legte eine Hand auf Helenes Schulter. Sie spürte die Last, die in ihr lag, und zugleich die Kraft, die in diesem Moment entstand. Der Hund setzte sich neben den Grabstein und blieb reglos, als würde er wachen.
Nach einer Weile wandte er sich ab und ging ein paar Schritte weiter. Margarete folgte ihm und sah einen weiteren Stein, kleiner, einfacher, von Efeu halb überwuchert. Klaus Falkenberg, 1941–2004.
Ihr Atem stockte. Sie sank auf die Knie und strich das Efeu zur Seite. Ihr Herz schlug wild, als sie den Namen las. Sie hatte das Grab jahrelang nicht besucht. Der Schmerz war zu groß gewesen, und sie hatte den Friedhof gemieden. Nun stand sie davor, geführt von einem alten Hund, der scheinbar mehr wusste als beide Frauen zusammen.
Tränen liefen über ihr Gesicht. „Klaus“, flüsterte sie. „Ich habe dich nicht vergessen. Ich habe nur nicht den Mut gehabt, dich wieder aufzusuchen.“
Helene kam langsam hinzu. Ihre Augen waren feucht, doch ihr Gesicht wirkte ruhig. „Es ist kein Zufall, dass unsere Männer so nah beieinander ruhen“, sagte sie. „Vielleicht wollten sie, dass wir uns begegnen.“
Margarete nickte. „Vielleicht ist es so. Vielleicht ist Tabor nur der Bote.“
Der Hund legte sich zwischen die beiden Gräber, den Kopf auf die Pfoten. Seine Augen schlossen sich halb, als wäre er endlich am Ziel.
Die beiden Frauen blieben lange dort. Sie sprachen leise von den Männern, erzählten Erinnerungen, die bisher ungesagt geblieben waren. Sie weinten, aber sie lachten auch, wenn kleine Geschichten ans Licht kamen, die längst vergessen schienen.
Die Sonne wanderte, und der Friedhof lag still. Nur das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Blätter füllten die Luft.
„Ich glaube, er hat uns gezeigt, dass wir nicht länger vor der Vergangenheit fliehen müssen“, sagte Helene schließlich. „Wir können herkommen, wann immer wir wollen. Zusammen.“
Margarete nickte, und in ihrem Herzen breitete sich eine Ruhe aus, die sie seit Jahren nicht mehr gekannt hatte.
Auf dem Rückweg gingen sie schweigend nebeneinander. Der Hund lief langsam, seine Schritte schwerer als sonst, doch in seiner Haltung lag etwas Erhabenes. Als wüsste er, dass er seine Aufgabe erfüllt hatte.
Am Gartentor angekommen, legte er sich nieder, atmete tief und schloss die Augen. Helene streichelte sein Fell. „Er wird müde“, sagte sie leise. „Er trägt all das schon so lange.“
Margarete kniete sich zu ihm, legte ihre Hand auf seinen Kopf. „Er hat uns mehr gegeben, als wir je erwarten konnten.“
An diesem Abend, im Bus zurück, blickte Margarete lange aus dem Fenster. Die Straßen der Stadt rauschten vorbei, doch in ihrem Inneren war es still. Sie hatte das Grab gesehen, sie hatte sich erinnert, und sie hatte verstanden.
Und doch spürte sie, dass die Reise mit dem Hund noch nicht zu Ende war.
Morgen wird er uns zeigen, was bleibt, wenn alles andere vergeht.