Teil 5: Der Junge mit dem zerbrochenen Skateboard
Es war ein Dienstagmorgen im Januar,
kalt, aber klar.
Der Boden war gefroren,
die Sonne hing wie ein blasses Lächeln über Eilenburg.
Karl war mit Bobby und Otto auf dem Weg zum Feldweg.
Dort, wo die Luft noch still war,
wo die Hunde frei sein konnten
und kein Mensch etwas von ihnen verlangte.
Sie waren fast am Waldrand,
als sie ihn sahen.
Ein Junge, vielleicht zwölf.
Hockte neben einem zerbrochenen Skateboard.
Die Hände schmutzig, das Gesicht bleich.
Keine Tränen. Nur dieses starre, leere Sehen.
Karl blieb stehen.
Otto knurrte leise, Bobby rollte einen Schritt nach vorn.
Der Junge bemerkte sie nicht.
Er starrte das Brett an,
als hätte es gerade jemand erschossen.
„Ist was passiert?“, fragte Karl.
Der Junge zuckte.
Dann nickte er.
„Mein Bruder hat’s kaputt gemacht.“
Seine Stimme war dünn.
„Er hat’s mir auf den Boden geworfen. Extra.
Weil ich nicht mit ihm spielen wollte.“
Karl sagte nichts.
Er setzte sich langsam auf den Baumstumpf neben dem Weg.
Die Knie knackten, die Hunde blieben ruhig.
„Und jetzt?“, fragte Karl.
Der Junge zuckte erneut.
„Ich wollte einfach mal allein sein.“
Sein Blick wanderte zu Bobby.
„Was ist mit dem? Der… rollt?“
„Er rollt“, sagte Karl.
„Weil er nicht mehr laufen kann.“
„Und der andere? Der sieht… traurig aus.“
Karl nickte.
„Der war’s auch. Ist er manchmal immer noch.“
Der Junge ließ das Skateboard los.
„Was macht man, wenn man nicht mehr laufen kann?
Oder wenn alles, was einem gehört, kaputt geht?“
Karl atmete langsam.
„Dann sucht man sich Räder. Oder andere Wege.
Oder einen alten Mann, der noch ein bisschen Hoffnung in der Werkstatt hat.“
Der Junge lächelte zum ersten Mal.
Schief, schüchtern.
Dann hob er das kaputte Brett hoch.
„Meinen Vater interessiert das nicht.
Der sagt, man soll härter werden.
Aber ich glaub, ich bin eher weich.“
„Weich ist nicht schlecht“, sagte Karl.
„Weich ist, wenn man noch fühlen kann.“
Am nächsten Tag stand der Junge wieder da.
Diesmal ohne Brett, aber mit einer Decke unterm Arm.
Otto ging zu ihm. Ohne Knurren.
Legte sich hin.
Der Junge streichelte vorsichtig über seinen Rücken.
„Ich heiße Tim“, sagte er.
Karl nickte.
„Ich weiß. Ich kenn deinen Vater vom Markt.
Du bist der, der nie redet.“
„Ich rede nur mit Tieren“, flüsterte Tim.
„Die schreien nicht zurück.“
Tim kam von da an oft.
Nach der Schule, wenn es schon fast dämmerte.
Er half beim Füttern, beim Kehren.
Manchmal saß er nur da,
die Hände im Fell, das Herz im Nichts.
Karl sagte wenig.
Aber er sah viel.
Er sah, wie Tim aufblühte – langsam, vorsichtig, wie ein Winterkrokus.
Eines Abends fragte Tim:
„Kann man auch für Menschen Rollstühle bauen? Für innen?“
„Innen?“
„Für kaputte Herzen.“
Karl sah ihn lange an.
Dann sagte er nur:
„Vielleicht. Aber man muss sie selber ziehen.“
In der Woche darauf kam ein Brief vom Jugendamt.
„Uns wurde zugetragen,
dass sich ein älterer Herr regelmäßig mit einem Kind trifft.
Wir bitten um ein klärendes Gespräch.“
Karl starrte den Brief an.
Die Buchstaben tanzten.
Nicht vor Wut. Vor Scham.
Er dachte an Tims schmale Schultern.
An die ruhige Nähe zwischen Hund und Kind.
An das Vertrauen, das in winzigen Portionen wuchs –
und nun auf dem Spiel stand.
Er rief an.
„Ich bin Karl Bender. Sie haben geschrieben.“
Die Stimme am anderen Ende war kühl.
„Dann können wir gleich einen Termin vereinbaren.“
Der Termin war am Freitag, im Rathaus.
Karl zog seinen alten Mantel an,
den mit den Ellenbogenflecken.
Bobby blieb zu Hause.
Otto auch.
Karl wollte allein sein.
Die Frau war jung, sehr korrekt.
Sie stellte Fragen.
Wie oft Tim da war.
Ob er über seine Familie gesprochen hatte.
Ob Karl je mit ihm allein war.
Karl antwortete ruhig.
Nicht verteidigend. Nur ehrlich.
„Ich hab ihm Tee gemacht. Und Leberwurst geschmiert.
Ich hab ihm zugehört. Mehr nicht.“
Die Frau notierte.
„Wir werden das beobachten. Sie verstehen… Kinderschutz.“
Karl nickte.
„Aber wer schützt die Kinder vor der Kälte in den eigenen Wänden?“
Tim kam am Montag nicht.
Auch nicht am Dienstag.
Am Mittwoch saß Karl auf der Bank.
Zwei Tassen Tee.
Eine blieb kalt.
Donnerstag kam ein Brief.
Von Tim.
In Kinderschrift. Auf kariertem Papier.
„Ich darf nicht mehr zu dir.
Mama sagt, ich soll dich vergessen.
Aber das kann ich nicht.
Otto ist mein Freund.
Und du bist nicht böse.
Ich hab ein Versteck. Ich komm, wenn’s geht.
Bleib bitte da.“Dein Tim
Karl faltete den Brief sorgfältig zusammen.
Steckte ihn in die Jackentasche.
Er sagte nichts.
Aber seine Hände zitterten.
Bobby lehnte sich an ihn.
Otto sprang auf die Bank.
Zum ersten Mal.
Er legte die Pfote auf Karls Knie.
Und Karl, der so oft gefallen war,
spürte plötzlich wieder:
Man kann auch im Sitzen stark sein.
Am Samstagmorgen stand Tim plötzlich im Garten.
Mit Rucksack und nassen Schuhen.
Die Augen rot. Die Wangen schmutzig.
Karl öffnete die Tür, ohne ein Wort.
Tim kam rein.
Otto rannte ihm entgegen.
Bobby hob leicht den Kopf.
Tim setzte sich auf den Boden.
Sein ganzer Körper bebte.
„Ich bin nur kurz da.
Ich will nicht reden. Nur bleiben.“
Karl nickte.
Er brachte eine Decke.
Tee.
Und stellte die zweite Tasse auf den Boden.
Draußen fiel der erste Schnee des Februars.
Leise. Ohne Eile.
Und drinnen, im kleinen Haus am Feldrand,
fand ein Junge für ein paar Stunden Frieden.
Bei einem Hund,
einem alten Mann
und einem Herzen,
das nicht mehr so schnell zerbrach.