Teil 6: Der Besuch vom Amt
Am Montagmittag klopfte es an Karls Tür.
Nicht zaghaft. Nicht freundlich.
Dreimal, bestimmt.
Karl wusste sofort, wer es war.
Nicht Tim. Nicht Lara vom Tierheim.
Nicht einer von den Nachbarn.
Es war das Amt.
Er schob Bobby sanft zur Seite,
hob Otto vom Flur,
stellte die Tasse auf den Küchenschrank
und atmete tief durch.
Als er öffnete, stand die Frau vom Jugendamt da.
Neben ihr ein Mann mit Mantel und Aktentasche.
Beide sahen ihn an,
als wollten sie prüfen,
ob man durch ihn hindurchsehen konnte.
„Herr Bender“, begann sie sachlich,
„wir möchten mit Ihnen sprechen. Drinnen.“
Karl nickte.
„Wenn Sie keine Angst vor Leberwurstgeruch haben – bitte.“
Sie setzten sich an den kleinen Küchentisch.
Der Mann, offenbar vom Ordnungsamt, legte die Finger gefaltet auf das Holz.
Die Frau holte ein Klemmbrett hervor.
Otto kroch unter den Tisch. Bobby blieb in seiner Ecke.
„Es gibt Hinweise,
dass der Junge Tim regelmäßig über Nacht hier war“,
sagte die Frau.
„Stimmt das?“
Karl sah nicht weg.
„Einmal. Letzten Samstag.
Er kam spät.
War durchgefroren.
Ich hab ihn nicht gefragt, warum.“
„Haben Sie seine Eltern informiert?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ich wusste, dass sie ihn nicht vermissen.“
Der Mann rutschte unruhig auf dem Stuhl.
„Herr Bender, Sie mögen es gut meinen.
Aber das ist eine rechtliche Grauzone.
Sie sind kein Vormund.“
„Ich bin kein Vormund“, wiederholte Karl.
„Aber manchmal reicht es, einfach jemand zu sein,
bei dem man nicht schreien muss.“
Stille.
Dann die Frau, etwas weicher:
„Wir haben mit der Mutter gesprochen.
Sie sagt, Tim sei schwierig.
Ein stilles Kind. Kein Interesse an Sport, kaum Freunde.
Sie glaubt, Sie beeinflussen ihn negativ.“
Karl lachte trocken.
„Ich geb ihm Tee. Und einen Platz, wo er nicht zurückweichen muss.
Wenn das negativ ist, dann ja.“
Sie nickte.
„Wir sind hier, um zu verstehen.
Nicht um zu verurteilen.
Aber wir müssen sicherstellen, dass Sie… geeignet sind.“
Der Satz hing in der Luft.
Wie ein Urteil, das noch nicht gefallen war.
Nach einer Stunde gingen sie.
Ohne Entscheidung. Ohne Versprechen.
Nur mit dem Hinweis:
„Wir melden uns.“
Karl blieb im Türrahmen stehen,
bis der Motor des Wagens verstummte.
Dann schloss er langsam.
Die Hunde sahen ihn an.
Er kniete sich zu ihnen.
„Jetzt prüfen sie uns, Jungs.
Aber wir wissen, was zählt.“
Am nächsten Morgen lag ein Brief im Kasten.
Kein Absender.
Nur eine Karte mit einem Foto:
Tim, Bobby und Otto – auf der Bank im Garten.
Hinten stand:
„Manchmal heilt,
was nicht erlaubt ist.“– Eine Mutter, die es bereut
Karl starrte lange auf das Foto.
Dann schob er es zwischen die Seiten eines alten Buches.
„Der alte Mann und das Meer.“
Die Woche verging.
Keine Nachricht vom Amt.
Kein Tim.
Karl mähte den kleinen Rasen,
flickte den Gurt von Bobbys Rollstuhl,
las Otto aus der Zeitung vor.
Die Leere wuchs – nicht wie Dunkelheit,
sondern wie Nebel.
Am Freitag dann klingelte das Telefon.
„Herr Bender? Hier spricht Inge Schulze.
Ich bin Lehrerin von Tim.
Wir haben über Sie gesprochen.
Er schreibt jetzt wieder.
Und er hat über Bobby einen Aufsatz gehalten.
Darf ich ihn Ihnen schicken?“
Karl nickte.
„Ja. Bitte.“
Der Brief kam am Montag.
Mein Held hat Räder
Bobby kann nicht laufen.
Aber er rollt.
Und weil er rollt,
kann er mehr sehen als andere.Wenn ich traurig bin,
legt er seinen Kopf auf mein Bein.
Und das fühlt sich an,
als ob jemand sagt:
„Du bist wichtig.“Ich möchte später auch so werden wie Bobby.
Nicht schnell.
Aber stark.
Und treu.
Karl legte das Papier auf den Tisch.
Setzte sich.
Und weinte.
Still.
Ohne Eile.
Am Mittwoch kam der Anruf.
Wieder die Frau vom Jugendamt.
„Herr Bender, wir haben nachgedacht.
Und auch mit Tims Lehrerin gesprochen.“
Pause.
„Wir möchten Ihnen anbieten,
Teil unseres neuen Mentorenprogramms zu werden.
Für Kinder, die niemanden haben.
Die nicht laut sind.
Die mehr Herz brauchen als Regeln.“
Karl schluckte.
„Ich bin 71. Ich hab Arthrose und einen steifen Arm.“
„Und zwei Hunde, die Wunder wirken.“
Karl lächelte.
„Ich bin dabei.“
Im April kam Tim zum ersten Mal wieder offiziell.
Mit Erlaubnis.
Mit Rucksack und Sonnenmütze.
Er hatte selbstgebackene Hundekekse dabei.
Otto fraß vier, Bobby ließ sich Zeit.
Karl setzte sich mit ihm unter den Apfelbaum.
„Und?“, fragte er.
„Wie geht’s dir?“
Tim sah ihn lange an.
„Ich träume nachts von einem Tierheim.
Aber nicht mit Käfigen.
Sondern mit alten Männern. Und Hunden mit Rädern.“
Karl nickte.
„Vielleicht, Tim… vielleicht baun wir genau das.“