Der Hund im Rollstuhl | Ein alter Busfahrer, ein gelähmter Hund – und ein Tierhof, der Leben zurückgibt

Teil 7: Der Plan vom kleinen Tierhof

Der Gedanke ließ Karl nicht mehr los.
Ein Tierheim ohne Gitter.
Ein Ort für Hunde mit Macken –
und für Menschen, die selbst welche haben.

„Der kleine Tierhof der Hoffnung“, murmelte er.
Er schrieb es auf einen Notizzettel,
klein und rund,
wie früher die Endstationen auf dem Fahrplan.


Tim war begeistert.
„Dann könnten wir Hunde retten,
und Menschen gleich mit“, sagte er.

Sie saßen am Küchentisch,
Otto döste auf dem Teppich,
Bobby schlief in seinem Rollstuhl,
der inzwischen leise knarzte wie ein altes Schiff.

Karl holte einen alten Stadtplan von Eilenburg.
„Es gibt da draußen am Waldrand diese stillgelegte Hühnerfarm.
Seit Jahren leer.
Vielleicht steht sie noch.“

Tim beugte sich über das Papier.
„Das wär perfekt.
Mit Wiese, Zaun, Platz für kleine Hütten.
Ein Café für Besucher!“

Karl schnaubte.
„Ein Café? Was soll ich da machen? Milchkaffee servieren mit Hundeharzen?“

Tim lachte.
„Nein. Aber du könntest Geschichten erzählen.
Über Bobby. Über Otto. Über dich.“

Karl schwieg.
Dann nickte er.
„Vielleicht.“


Zwei Tage später fuhren sie mit dem Rad zur alten Farm.
Tim vorneweg, Karl hinterher,
mit dem klapprigen Herrenrad seiner Frau.
Bobby saß in einem umgebauten Fahrradanhänger.
Otto lief nebenher – humpelnd, aber entschlossen.

Die Farm war verwildert.
Brennnesseln, Brombeersträucher,
ein eingestürzter Zaun, ein kaputtes Schild:
„Geflügelhof Schröder – seit 1973“

Tim schob das Tor auf.
Es quietschte.
Vögel flogen auf.

Sie standen da wie Entdecker.
Ein alter Mann, ein Junge, zwei versehrte Hunde –
und ein Ort, der auf neue Geschichten wartete.


In der Zeitung stand am Samstag:
„Ehemaliger Busfahrer will Tierhof für besondere Hunde eröffnen“

Karl hatte nie etwas veröffentlicht.
Aber Lara vom Tierheim hatte alles organisiert.
Spendenaufruf. Interview. Foto.

Er saß mit Otto auf der Bank,
Bobby daneben, Tim mit verschränkten Armen.
Unter dem Foto stand:

„Kaputt ist nicht das Ende.
Manchmal ist es der Anfang.“


Spenden kamen.
Langsam, dann schneller.
20 Euro von einem Schulfreund aus Zwickau.
50 Euro von einer alten Dame aus Bayern.
„Für Bobby, den rollenden Engel.“

Ein Rentnerverein bot Hilfe beim Zaunbau an.
Ein Tischler aus Leipzig wollte Hütten bauen.
Ein junger Tierarzt schrieb:
„Ich arbeite kostenlos, ein Tag pro Woche.“

Karl war überwältigt.
Er saß abends auf der Terrasse,
den Stapel Briefe auf dem Schoß.

„Ich versteh die Welt nicht mehr“, murmelte er.
„Früher hat keiner nach mir gefragt.
Jetzt… jetzt schickt mir jemand 100 Euro und ein Gedicht.“

Tim grinste.
„Du bist halt viral gegangen.“

Karl schnaubte.
„Ich bin 71. Ich geh höchstens noch zum Urologen.“


Im Mai begannen sie mit dem Aufräumen.
Karl, Tim, Lara, drei Freiwillige,
und ein junger Mann namens Cem –
der früher im Knast war und jetzt was zurückgeben wollte.

„Ich kenn das, wenn keiner mehr an dich glaubt“,
sagte Cem.
„Aber ein Hund…
Ein Hund guckt dich an,
als wär da noch was Gutes in dir.“

Sie räumten Müll.
Rissen altes Holz ab.
Reinigten Fenster.
Ein Wochenende, dann war aus Ruinen ein Rohbau geworden.


Karl schrieb an das Amt.
„Wir brauchen Genehmigung. Für Tierhaltung. Für Besucher.
Für Hoffnung auf vier Pfoten.“

Zwei Wochen später kam eine Antwort.
Behördlich. Trocken.

„Der Antrag ist unvollständig.
Bitte reichen Sie einen Bauplan,
ein Hygienekonzept
und eine Trägerschaft ein.“

Karl starrte auf das Schreiben.
„Ich bin kein Architekt. Kein Hygienefuzzi.
Ich bin Busfahrer. Und jetzt Hundeflüsterer.“

Tim las es sich durch.
Dann sagte er:
„Vielleicht sollten wir jemanden fragen,
der so was kann.“


Sie fanden Annette.
Architektin. Anfang 60.
Hatte gerade ihren Mann verloren.
„Ich brauch was Neues“, sagte sie.
„Und ich liebe Hunde.“

Sie zeichnete Grundrisse.
Kleine Hundehütten.
Ein Begegnungscafé.
Ein ruhiger Raum für Menschen, die trauern.
Und mittendrin: ein alter Apfelbaum.

„Der bleibt“, sagte sie.
„Der ist Symbol.
Der trägt auch noch, wenn keiner mehr an ihn glaubt.“


Der Antrag ging raus.
Mit Unterschriften.
Mit Zeichnungen.
Mit einem Titelblatt:
„Tierhof der Hoffnung – ein Ort für Zweite Chancen“

Dann hieß es: warten.

Karl war nervös.
Er putzte jeden Tag Bobby die Rollen.
Stellte Ottos Napf millimetergenau.

Tim bastelte Schilder.
„Bobby’s Bank“,
„Otto’s Ecke“,
„Hier darf man still sein.“


Der Bescheid kam im Juni.
Ein offizieller Umschlag.
Stempel. Behördensprache.

Karl öffnete ihn auf der Bank.
Tim neben ihm.
Bobby schnaufte. Otto döste.

Dann las Karl laut:

„Der Antrag wird unter Vorbehalt genehmigt.
Drei Monate Probezeit.
Danach entscheidet der Stadtrat.“

Tim sprang auf.
„Das heißt: Wir dürfen loslegen!“

Karl lächelte.
Nicht breit.
Aber tief.

„Dann bauen wir jetzt nicht mehr nur Träume.
Sondern Wirklichkeit.“


In der ersten Woche kamen fünf Hunde.
Ein blinder Windhund.
Eine Hündin mit drei Beinen.
Ein alter Dackel, der nur rückwärts lief.
Ein junger, verängstigter Boxer.
Und ein wuscheliges Etwas ohne Namen.

Tim nannte ihn „Keks“.

Die Hunde lebten sich langsam ein.
Bobby war das Alphatier –
ruhig, rollend, würdevoll.

Otto war das Herz.
Er schlief oft bei den Neuankömmlingen.
Wie ein stiller Bruder.

Karl wurde zum Gastgeber.
Zum Tierseelsorger.
Zum Vater der Vergessenen.


Eines Abends stand Tim wieder auf der Bank.
Der Himmel über dem Hof war rosa,
die Hunde dösten in der Abendluft.

„Weißt du, Karl“, sagte Tim,
„ich glaub, wir haben was gebaut,
das größer ist als wir.“

Karl nickte.

„Und es rollt.“

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