Teil 8: Der Tag der offenen Pfoten
Der Tag begann mit Tau auf dem Gras
und dem leisen Geklapper von Bobby’s Rädern.
Es war Samstag, Mitte Juli.
Der erste große Besuchstag auf dem Tierhof.
Sie nannten ihn:
„Tag der offenen Pfoten“
— Tims Idee.
Karl hatte geschnaubt.
„Klingt wie ein Kindertheater.“
Aber insgeheim mochte er den Klang.
Seit Tagen hatten sie vorbereitet.
Lara vom Tierheim hatte Plakate in der Stadt aufgehängt.
Annette druckte Flyer, Cem stellte Bänke auf,
und Tim bastelte bunte Holzschilder mit Aufschriften wie:
„Bitte streicheln erlaubt“
oder
„Hier liegt ein müder Held.“
Die Hunde spürten, dass etwas bevorstand.
Selbst der ängstliche Boxer, den alle nur „Herr Grummel“ nannten,
lag nicht wie sonst unter dem Tisch,
sondern beobachtete die Vorbereitungen mit wachen Augen.
Otto lief in kleinen Kreisen über den Hof.
Bobby ließ sich das Geschirr anlegen,
als wüsste er, dass heute nicht Alltag war.
Heute war Bühne.
Um 10 Uhr öffneten sie das Tor.
Die ersten Besucher waren zögerlich.
Ein junges Paar mit Kinderwagen.
Ein älterer Mann mit Spazierstock.
Dann kamen mehr.
Familien, Rentner, Jugendliche mit Kameras.
Eine Frau mit rotem Hut sagte:
„Ich hab den Rollstuhl-Hund aus der Zeitung wiedererkannt!“
Karl trug seine blaue Arbeitsjacke.
Nicht neu. Aber ordentlich.
Er stand am Rand, Bobby neben ihm.
Otto lag im Schatten.
Tim übernahm die Führung.
Er zeigte, wie der kleine Windhund mit der Stimme reagierte.
Wie Keks, das wuschelige Etwas, beim Wort „Keks“ aufhorchte.
Und wie Otto inzwischen Pfötchen gab –
aber nur, wenn man nicht hinsah.
Gegen Mittag standen fast fünfzig Leute auf dem Hof.
Cem grillte vegetarische Würstchen,
Lara schenkte Apfelsaft aus,
Annette saß mit einem Skizzenblock auf der Bank
und zeichnete Kinder mit Hunden.
Ein Junge, etwa fünf, setzte sich zu Bobby.
„Warum hat der Räder?“
„Weil er stark ist“, sagte Tim.
„Und weil er nicht aufgibt.“
Der Junge nickte.
„Dann ist er ein Robohund.“
Karl hörte das, und lächelte.
„Robohund Bobby“, murmelte er.
„Gefällt mir.“
Am Nachmittag kam ein Reporter vom MDR.
„Wir machen einen Beitrag über ungewöhnliche Orte der Hoffnung“,
sagte er.
„Und das hier… das ist mehr als ein Tierheim.“
Karl war nicht begeistert.
„Ich hab keine Kamera gern vor der Nase.“
Aber Tim trat vor.
„Ich mach’s.“
Und so saß Tim, 13 Jahre alt,
mit Otto auf dem Schoß,
vor der Linse eines Fernsehteams.
„Ich war früher viel allein“, sagte er.
„Ich hab nicht geredet.
Aber hier reden die Hunde.
Und ich hör zu.“
Der Kameramann nickte.
„Das ist besser als alles, was ich je gedreht hab.“
Am späten Nachmittag setzte sich Karl mit einem Becher Kaffee auf die Bank.
Bobby lag neben ihm.
Tim kam mit Apfelkuchen.
Drei Stücke – für sie, für Lara, für Annette.
„Ich glaub“, sagte Karl,
„das hier ist das Lauteste, was ich je gebaut hab.“
„Laut?“, fragte Tim.
„Ja.
Weil’s im Herzen schreit.
So richtig.“
Gegen 18 Uhr lichtete sich der Hof.
Die letzten Besucher winkten,
ein Kind rief:
„Tschüss, Otto! Bleib stark!“
Dann war es still.
Nur das Zirpen der Grillen.
Und das Klacken von Bobby,
der noch eine letzte Runde rollte.
Karl stand auf, ging zum Zaun.
Da fiel ihm eine Frau auf.
Sie war jung, Anfang dreißig.
Mit dunklem Zopf und traurigen Augen.
Sie stand da, als gehöre sie nicht dazu.
Als wäre sie nur zum Zuschauen gekommen.
„Ist was?“, fragte Karl.
Sie zögerte.
„Ich hatte mal einen Hund.
Er hieß Leo.
Er war mein Halt… nach dem Krebs.
Aber er wurde angefahren. Ich war zu spät…“
Sie verstummte.
Karl sagte nichts.
Er ging zu ihr,
holte einen Klappstuhl,
setzte sich einfach daneben.
Otto kam langsam.
Legte sich zu ihren Füßen.
„Ich kann ihn nicht ersetzen“, sagte Karl.
„Aber Otto kann zuhören.“
Sie nickte.
Und weinte.
Abends saßen sie wie immer auf der Bank.
Karl, Tim, die Hunde.
Die Lichterkette über dem Eingang brannte noch.
In der Ferne schlug eine Uhr.
„Ich glaub, wir haben heute mehr gerettet als Tiere“,
sagte Tim.
Karl schwieg.
Dann stand er langsam auf,
ging ins Haus,
kam mit einer alten Schachtel zurück.
Er öffnete sie.
Darin: Ein Fahrplan.
Von 1981.
Seine Lieblingslinie.
„Weißt du, Tim…
früher hab ich Menschen durch die Stadt gefahren.
Heute fahr ich sie zurück zu sich selbst.“
Ein letzter Besucher kam spät.
Ein Mann mit Bart, zerbeulter Jacke,
ein Auge leicht vernarbt.
„Ich hab gehört, Sie nehmen kaputte Hunde.“
„Wenn sie noch atmen – ja.“
Er holte aus dem Auto eine Kiste.
Darin: ein kleiner Terrier, zitternd, blind auf einem Auge.
„Er hat den letzten Winter draußen überlebt.
Ich… hab versagt.
Aber ich kann ihn nicht in ein Heim geben.
Nicht schon wieder.“
Karl nickte.
„Dann bleibt er hier.
Zwischen anderen,
die auch mal falsch abgebogen sind.“
Der Mann blieb kurz stehen.
Sah sich um.
Sah Bobby. Sah Otto.
Dann sagte er leise:
„Wenn es so einen Ort für Menschen gäbe…
würde ich bleiben.“
Karl antwortete nicht sofort.
Dann:
„Vielleicht ist das hier schon so ein Ort.
Für beide.“