Der Hund im Rollstuhl | Ein alter Busfahrer, ein gelähmter Hund – und ein Tierhof, der Leben zurückgibt

Teil 9: Ein Brief aus dem Krankenhaus

Der Umschlag lag zwischen Stromrechnung und Tierfutterkatalog.
Schlicht, grau, mit Krankenhauslogo.
Absender: Klinikum Leipzig, Onkologie.

Karl runzelte die Stirn.
Er kannte niemanden dort.
Er öffnete langsam, vorsichtig –
als könnte der Brief selbst krank machen.

Innen: ein handgeschriebener Brief,
in krakeliger, aber warmer Schrift.
Und ein Foto.
Darauf zu sehen: ein spärlich möbliertes Krankenzimmer,
eine Frau im Nachthemd –
und ein ausgemergelter Labrador auf dem Bett.

Karl las:


Lieber Herr Bender,

Sie kennen mich nicht. Aber ich kenne Sie.

Ich habe im Fernsehen den Bericht über Ihren Hof gesehen.
Über Bobby, Otto, den kleinen Jungen.

Ich liege seit Monaten hier.
Krebs im Endstadium. Die Ärzte geben mir nicht mehr viel Zeit.

Ich hatte mich längst aufgegeben.
Mein Hund, Lupo, ist mein letzter Halt.
Aber hier im Krankenhaus darf er kaum bei mir sein.

Als ich Ihren Hof sah, habe ich geweint.
Zum ersten Mal seit Wochen.
Nicht vor Angst. Sondern weil ich Hoffnung spürte.

Ich will nicht um Hilfe bitten.
Aber wenn Sie Lupo aufnehmen würden…
Wenn Sie ihm ein Zuhause gäben, sobald ich gegangen bin…

Dann könnte ich ruhiger gehen.

In Dankbarkeit,
Ihre
Monika Riedel


Karl las den Brief zweimal.
Dann drehte er das Foto um.
Dahinter stand nur ein Satz:

„Er versteht, wenn ich atme.“

Er setzte sich auf die Bank,
das Papier zitterte leicht in seiner Hand.
Otto legte sich leise an seine Füße.
Bobby hob den Kopf.

„Noch einer, Jungs“, flüsterte Karl.
„Noch ein Herz, das Platz braucht.“


Am nächsten Morgen rief er im Klinikum an.
Die Stationsschwester klang überrascht,
dann erleichtert.

„Monika hat geweint, als ich sagte, Sie rufen wirklich an.
Sie hat so lange gezweifelt, ob sie schreiben soll.“

Zwei Tage später stand Karl mit Tim im Krankenhausflur.
Bobby durfte mit, mit Spezialgenehmigung.
Otto blieb im Auto – große Gebäude machten ihn nervös.

Zimmer 214.
Monika war schmal, durchsichtig fast.
Aber die Augen –
wach, lebendig, gütig.

Lupo lag zu ihren Füßen,
den Kopf auf der Decke,
den Blick ruhig.

„Das ist also der Mann, der Hoffnung baut“,
sagte sie, als Karl eintrat.

Karl schüttelte den Kopf.
„Ich bau Zäune und koche Leberwurst.
Aber Hoffnung… die kommt von euch.“

Tim winkte schüchtern.
Monika winkte zurück.
„Du bist der Junge aus dem Fernsehen, nicht?
Der mit dem weichen Herz.“

Tim nickte.

Bobby rollte langsam näher ans Bett.
Monika streckte die Hand aus,
strich ihm übers Ohr.

„Ich hab dich gesehen“, flüsterte sie.
„Du erinnerst mich an meinen Lupo –
stark, auch wenn’s weh tut.“

Lupo stand auf, langsam.
Ging zu Bobby, schnupperte.
Dann legte er sich neben ihn.
Ein ruhiger Moment,
der mehr sagte als alles, was Menschen sagen konnten.


Am Nachmittag saßen sie im Klinikgarten.
Monika im Rollstuhl,
Bobby an ihrer Seite,
Lupo zwischen ihr und Tim.

Karl saß auf der Bank,
die Knie schwer, aber das Herz leicht.

„Ich hab keine Familie mehr“, sagte Monika.
„Aber wenn Lupo zu euch kommt…
dann ist das auch Familie.
Nur eben mit anderen Namen.“

„Er wird bleiben, solange er will“, sagte Karl.
„Und darüber hinaus.“


Zwei Wochen später kam der Anruf.

Monika war in der Nacht friedlich eingeschlafen.
Lupo lag bei ihr bis zum letzten Atemzug.
Dann stand er auf,
ging zur Tür
und wartete.

Der Pfleger brachte ihn selbst auf den Hof.
Ein stiller Mann mit grauem Bart.
„Sie hat ihn euch anvertraut“, sagte er nur.
„Und ich glaube, sie hatte recht.“

Lupo stieg aus dem Wagen,
sah sich um,
dann ging er zu Otto.
Stupste ihn an.
Otto blieb ruhig.
Dann leckte er Lupo über die Schnauze.

Willkommen,
sagten sie,
ohne ein Wort.


Lupo lebte sich ein wie ein alter Mönch.
Er fraß wenig, bellte nie,
lag oft im Schatten des Apfelbaums
und blickte in eine Richtung,
die niemand kannte.

Aber wenn Tim sich zu ihm setzte,
legte Lupo den Kopf in seinen Schoß.
Und wenn Karl am Zaun arbeitete,
begleitete ihn Lupo,
still und zuverlässig wie ein Schatten.


Im Juli schrieben sie Monikas Namen auf eine Holztafel.
Unter der Linde, wo Lupo nun oft schlief.

„Für Monika –
die mit Hoffnung ging
und Liebe zurückließ.“

Karl stand lange davor.
Dann nahm er seinen Hut ab.
„Danke“, sagte er nur.


Abends saßen sie wieder auf der Bank.
Tim, Bobby, Otto, Karl.
Lupo schlief zu ihren Füßen.

„Sie ist jetzt bei ihrem Hund“, sagte Tim leise.
„Oder er ist bei ihr.“

Karl nickte.
„Vielleicht sind sie beide bei uns.“

Tim zog eine Zeichnung aus dem Rucksack.
Bobby, Otto, Lupo –
alle drei unter dem Apfelbaum.

Darunter:
„Zuhause ist kein Ort.
Es ist ein Herz, das nicht fragt,
wer du warst –
nur, wer du werden willst.“

Karl faltete das Papier,
steckte es in die Brusttasche.
Er sah in den Himmel.

„Noch ein Platz besetzt“, murmelte er.
„Noch ein Grund, weiterzumachen.“

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