Der Hund im Schaufenster | Ein Schaufenster, ein vergessener Hund, ein altes Gesicht und eine Geschichte, die alles verändert

🐾 Teil 4: Die Spur der Schwester

Die Mappe lag schwer in Ingeborgs Händen, als sie in ihrer kleinen Wohnung Platz nahm. Der Regen klopfte an die Fensterscheiben, und die Nacht drängte sich in alle Ritzen. Sie legte die Fotos vorsichtig auf den Tisch, eins nach dem anderen, als wären es alte Spielkarten, die über Schicksale entschieden. Aurek lag zu ihren Füßen, die Augen halb geschlossen, doch sein Ohr zuckte bei jeder Bewegung.

Da war ihre Schwester Magdalena, jung und unbeschwert, so wie Ingeborg sie fast vergessen hatte. Das Lachen, das nie auf Fotos eingefangen werden konnte, schimmerte hier durch. Daneben der Mann mit den ernsten Augen. Immer derselbe, immer an Magdalenas Seite. Mal am Fluss, mal auf einer Bank, mal im Schatten eines Baumes. Er war kein zufälliger Passant. Er war Teil ihres Lebens.

Ingeborg fuhr mit dem Finger über die Aufnahmen. Sie spürte eine Beklemmung, als würde das Papier ihre Haut zurückhalten wollen. Wer war er? Und warum hatte niemand je von ihm gesprochen? Ihre Schwester war 1949 verschwunden, offiziell nach Westen gezogen, mit einer Stelle in Hamburg. Doch die Familie hatte nie wieder ein Lebenszeichen von ihr bekommen. Ingeborg war damals zehn gewesen. Zu jung, um Fragen zu stellen, zu alt, um es zu vergessen.

Die Notizen auf der Rückseite der Bilder waren in einer klaren Handschrift verfasst. Namen von Orten, Daten, manchmal nur ein Wort. Wittenberge 1948. Lenzen. Havelberg. Immer dieselbe Zeit, immer dieselbe Gegend. Und auf einigen Bildern ein kleines, kaum sichtbares Zeichen in der Ecke, ein eingekreistes Kreuz.

Ingeborg legte das Foto mit dem Kreuz beiseite. Ihre Hände zitterten. Sie erinnerte sich an eine Erzählung ihres Vaters, flüchtig, verdrängt. Von Menschen, die nicht bleiben konnten, von geheimen Treffen in den Jahren nach dem Krieg, als Grenzen neu gezogen wurden. Vielleicht war dieser Mann ein Teil davon. Vielleicht war ihre Schwester nicht nur fortgegangen, sondern hatte etwas hinterlassen, das niemand wissen durfte.

Sie spürte eine Unruhe, die sie seit Jahren nicht mehr gekannt hatte. Schlaflos ging sie auf und ab. Aurek hob den Kopf, folgte ihr mit den Augen, als wolle er sie daran erinnern, dass er wachte, auch wenn sie schwankte.

Am nächsten Tag ging sie zur Stadtbibliothek. Die alten Zeitungen lagen dort, vergilbt, in langen Reihen. Sie blätterte stundenlang, bis ihre Augen brannten. Dann, zwischen Anzeigen für Fahrräder und Versammlungen, fand sie einen kurzen Bericht: Ein junger Mann, ein gewisser S. Nowak, sei 1949 an der Elbe verschwunden. Man vermutete einen Unfall beim Fährbetrieb. Keine Leiche, nur eine vermisste Person.

Sie sah das Foto an, das sie mitgenommen hatte. Es war derselbe Mann. Der gleiche Blick, der gleiche ernste Mund. Aber warum stand Magdalena an seiner Seite, warum so viele Male?

Ingeborg verließ die Bibliothek mit klopfendem Herzen. Auf der Straße war der Nebel wieder da, dichter als am Vortag. Sie spürte, dass die Vergangenheit sich nicht einfach aus den Akten lesen ließ. Sie musste gesprochen werden.

Sie suchte Frau Rogalla auf, die alte Nachbarin mit den Geschichten. Rogalla hörte ihr zu, als sie von den Fotos erzählte, und seufzte tief. Ich habe einmal von einem Nowak gehört, sagte sie langsam. Er war im Widerstand, noch nach dem Krieg, gegen das, was im Osten aufgebaut wurde. Manche sagten, er habe Botschaften über die Elbe gebracht. Und dass er jemanden an seiner Seite hatte, eine junge Frau. Aber wer das war, das wusste niemand.

Ingeborgs Hände wurden kalt. Wenn das stimmte, war ihre Schwester in etwas verstrickt, das größer war als ein neues Leben in Hamburg. Vielleicht hatte sie nie die Chance, überhaupt fortzugehen.

Als sie nach Hause ging, begleitete Aurek sie bis zur Tür. Sie setzte sich in den alten Sessel, der nach Erinnerung roch, und legte die Fotos erneut aus. Ein Mosaik aus Gesichtern, das eine Wahrheit formte, die man ihr verschwiegen hatte.

Sie dachte an den Hund. Warum war er ausgerechnet vor diesem Schaufenster? Warum hielt er Wache über ein Bild, das ihre Schwester zeigte? Zufall konnte das nicht sein. Tiere tragen Erinnerungen anders, tiefer vielleicht. Aurek schien ein Wächter zu sein, ein stiller Bote aus einer Zeit, die niemand mehr betreten wollte.

Die Nacht brach herein. Ingeborg schloss die Augen, hörte den Regen, fühlte Aureks Nähe. In ihr wuchs der Entschluss, nicht länger nur zu sammeln. Sie musste verstehen. Sie musste wissen, warum ihre Schwester verschwunden war und was dieser Mann damit zu tun hatte.

Morgen, flüsterte sie in die Dunkelheit. Morgen gehe ich den Weg bis zum Ende.

Und irgendwo tief in der Nacht, glaubte sie, ein fernes Bellen zu hören, das nicht von Aurek kam. Ein Laut aus einer Zeit, die längst vergangen war und doch wieder vor ihr stand.

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