Der Hund im Schaufenster | Ein Schaufenster, ein vergessener Hund, ein altes Gesicht und eine Geschichte, die alles verändert

🐾 Teil 7: Die Kiste mit dem Kreuz

Die Nacht war kurz und unruhig. Ingeborg drehte sich im Bett, während draußen der Regen gegen die Scheiben peitschte. Immer wieder sah sie im Traum die Kiste mit dem Kreuz vor sich, und jedes Mal, wenn sie den Deckel heben wollte, schloss er sich von selbst. Als sie endlich aufstand, fühlte sie sich älter als sonst, und doch trug sie eine Energie in sich, die sie lange nicht mehr gespürt hatte.

Aurek wartete wie immer an der Tür. Er schien zu wissen, wohin der Weg sie führen würde. Sein Blick war klar und entschlossen, als gehöre er zu diesem Auftrag ebenso wie sie. Ingeborg nahm den Schlüssel an sich, steckte die Taschenlampe ein und verließ die Wohnung. Der Morgen hing schwer über Wittenberge, Nebel lag in den Straßen, und die Elbe roch nach Metall und Erde.

Am Fotoatelier angekommen, schloss sie die Seitentür auf. Das Schloss klickte, und das Dunkel im Innern empfing sie wie ein langer Flur, in dem niemand Schritte machte. Sie atmete tief ein, trat ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Das Licht der Lampe tastete über die staubigen Wände, über Spinnweben und Kisten. Aurek schnupperte unruhig, lief im Kreis und blieb dann genau vor der Kiste mit dem Kreuz sitzen.

Ingeborg kniete sich nieder. Der Deckel war schwer, der Staub klebte an ihren Fingern. Mit beiden Händen drückte sie, bis sich das Holz mit einem Knarren hob. Ein Schwall abgestandener Luft stieg ihr in die Nase. Darin lagerten Akten, Bündel von Papieren, Fotos, und zwischen all dem ein kleines Kästchen aus Metall.

Sie nahm es heraus, legte es vorsichtig auf den Boden. Das Kästchen war mit einem schlichten Schloss versehen, das fast zu klein für seine Bedeutung wirkte. Der rostige Schlüssel in ihrer Hand zitterte. Mit einem Ruck drehte sie ihn, und das Schloss sprang auf.

Drinnen lagen Briefe. Dutzende, vielleicht Hunderte, fein säuberlich gefaltet, manche noch in Umschlägen, andere lose. Die Schrift auf den Umschlägen war sofort erkennbar. Magdalena. Es war die Handschrift ihrer Schwester. Ingeborgs Herz raste. Ihre Finger streichelten über die Tinte, als wollte sie spüren, ob die Wärme noch da war.

Sie öffnete den ersten Brief. Die Worte waren hastig geschrieben, die Buchstaben schief, doch klar zu lesen. Meine Liebe, stand da. Es war an Nowak gerichtet. Zeilen über Treffen am Fluss, über Angst vor Verfolgern, über Hoffnung auf eine gemeinsame Flucht. Dann ein Satz, der Ingeborg den Atem nahm: Wenn ich es nicht schaffe, denk daran, dass meine Schwester stark ist. Sie soll wissen, dass ich nicht fortgelaufen bin.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Jahrzehnte hatte sie geglaubt, Magdalena hätte die Familie im Stich gelassen. Nun stand es schwarz auf weiß: Sie war Teil eines Spiels, das größer war als sie selbst. Sie hatte geliebt, gehofft, gekämpft. Und vielleicht verloren.

Sie las einen zweiten Brief, dann einen dritten. Immer wieder tauchte Nowaks Name auf, immer wieder der Fluss, die Nacht, das Kreuz als Zeichen. Und am Ende ein Brief ohne Datum, mit nur einem Satz. Heute gehen wir. Wenn du das liest, dann haben wir es nicht geschafft.

Ingeborg legte die Briefe zurück, als hätte sie heilige Schriften berührt. Aurek drückte sich an ihre Seite, seine Wärme half ihr, den Schwindel abzufangen. Sie streichelte sein Fell, während ihre Gedanken rasten.

Sie wusste jetzt, dass ihre Schwester in den Widerstand verstrickt war, dass sie nicht fortgegangen, sondern verschwunden war. Aber wie? Wurde sie gefasst, ertrank sie in der Elbe, oder gelang es ihr, doch zu entkommen? Die Briefe gaben Antworten, doch sie öffneten neue Fragen, die noch schwerer wogen.

Ingeborg nahm das Kästchen an sich, schloss die Kiste wieder und verließ das Atelier. Draußen brach ein kalter Wind los, der den Nebel zerriss. Sie stand auf der Straße, den Hund an ihrer Seite, und hielt das Metallkästchen wie ein Herz, das noch schlug.

Am Abend setzte sie sich mit den Briefen an den Küchentisch. Das Licht der Lampe war schwach, ihre Hände müde, doch sie schrieb alles ab, Wort für Wort. Sie wollte die Worte ihrer Schwester festhalten, bevor die Zeit sie erneut verschluckte.

Als sie fertig war, schloss sie die Augen. Sie hörte das Rauschen des Flusses, und sie hörte eine Stimme, die nicht nur Erinnerung war. Magdalena, flüsterte sie, ich habe dich gefunden.

Dann legte sie den Kopf in die Hände, während Aurek neben ihr wachte. Und tief in ihrem Innern wusste sie, dass dies erst der Anfang war.

Denn die Briefe waren nicht nur ein Zeugnis der Liebe. Sie waren ein Vermächtnis. Und sie warteten darauf, erfüllt zu werden.

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