🐾 Teil 8: Die Schatten der Elbe
Die Tage danach verbrachte Ingeborg damit, die Briefe immer wieder zu lesen. Jeder Satz schien sich tiefer in ihr Herz einzubrennen. Die Schrift ihrer Schwester war eine Brücke über Jahrzehnte hinweg. Doch je mehr sie las, desto deutlicher spürte sie, dass Magdalena nie frei gewählt hatte, was ihr geschah. Sie war hineingezogen worden, von Liebe und Pflicht, und dann verschluckt von einer Zeit, die keine Gnade kannte.
Aurek wich ihr in diesen Tagen nicht von der Seite. Er legte den Kopf auf ihre Knie, wenn sie erschöpft die Briefe sinken ließ. Manchmal stand er plötzlich auf, ging zur Tür, stellte sich aufrecht und lauschte, als erwartete er jemanden. Es war, als könne er das Unsichtbare hören, das zwischen den Zeilen schwebte.
Eines Abends ging Ingeborg wieder an die Elbe. Der Wind trug den Geruch von feuchtem Schilf, und die Strömung klang wie ein unaufhörliches Murmeln. Sie setzte sich auf denselben Platz wie damals mit ihrem Vater, als sie Kind gewesen war. Er hatte ihr Geschichten erzählt vom Fluss, dass er alles wisse, dass er Gesichter bewahre, die ins Wasser fielen. Heute wirkte es, als wollte er ihr zustimmen.
Sie nahm die Briefe aus der Tasche, legte sie neben sich und sah hinüber ins Weiß des Nebels. Dann sprach sie laut, so laut wie ihre Stimme reichte. Magdalena, wenn du mich hörst, ich habe dich nicht vergessen. Die Worte zitterten, aber sie fielen nicht in die Leere. Aurek hob den Kopf, bellte einmal tief, und das Echo schwamm über das Wasser.
Da erinnerte sie sich an die Worte in einem der Briefe. Ein Treffen, im Dezember 1949, bei der Fähre von Cumlosen. Ein Kreuz im Brief, daneben die Notiz: Letzte Hoffnung. Ingeborg fühlte ein Ziehen in der Brust. Vielleicht lag dort der Schlüssel zum Ende, das nie erzählt worden war.
Am nächsten Morgen fuhr sie mit dem Bus nach Cumlosen. Das Dorf lag still, die Dächer glänzten vom Frost, und die Menschen grüßten kaum. Sie fragte nach der alten Fähre, doch viele zuckten nur die Schultern. Schließlich zeigte ihr ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht den Weg zum Ufer. Dort, sagte er, stand sie früher. Aber seit Jahren fährt hier niemand mehr.
Ingeborg ging den schmalen Pfad hinunter. Die Erde war feucht, ihre Schritte schwer. Aurek lief voraus, blieb dann abrupt stehen und bellte. Vor ihnen lagen die Reste eines Anlegers, zerbrochene Balken, die halb im Wasser hingen. Auf einem der Balken war ein Kreuz eingeritzt, alt und verwittert, doch noch erkennbar.
Sie berührte es mit den Fingerspitzen. Der Atem stockte ihr. Es war dasselbe Zeichen wie auf den Fotos und den Briefen. Hier hatten Magdalena und Nowak gewartet. Vielleicht auf ein Boot, vielleicht auf einen Boten. Vielleicht war dies der Ort, an dem ihr Weg endete.
Ingeborg kniete sich nieder. Das Wasser schwappte gegen die Steine, kalt und erbarmungslos. Sie schloss die Augen und stellte sich ihre Schwester vor, jung, voller Angst und doch mit Hoffnung in den Augen. Sie sah Nowak neben ihr, die Hände ineinander verschränkt. Und dann das Dunkel, das sie verschlungen hatte.
Eine Träne lief ihr über die Wange. Aurek drückte seine Schnauze gegen ihre Schulter, als wolle er ihr sagen, dass sie nicht allein war. In diesem Augenblick war es, als höre sie Magdalenas Stimme. Nicht laut, nicht klar, sondern wie ein Flüstern im Wind. Vergiss mich nicht.
Mit zitternden Beinen erhob sie sich. Sie wusste, dass sie nie Gewissheit haben würde. Ob Magdalena ertrank, gefasst oder verschleppt wurde – das blieb ein Rätsel. Doch das Kreuz im Holz, die Briefe, das Foto im Schaufenster, all das war ein Beweis, dass sie gelebt hatte, geliebt und gehofft. Und dass ihr Schicksal nicht das einer Fahnenflüchtigen war, sondern das einer Mutigen.
Auf dem Rückweg blickte Ingeborg immer wieder zu Aurek. Der Hund ging schweigend an ihrer Seite, doch sie spürte, dass er mehr wusste, als er zeigen konnte. Vielleicht war er nur Zufall, vielleicht aber auch ein letzter Zeuge, ein Wächter, der nicht ruhte, bis die Wahrheit ans Licht kam.
In dieser Nacht saß sie lange am Küchentisch, die Briefe vor sich, das Kästchen geöffnet. Sie schrieb zum ersten Mal in ihr eigenes Heft, Worte, die sie nicht für sich allein meinte. Es war, als müsse sie Zeugnis ablegen, damit die Erinnerung nicht erneut verloren ging.
Als sie den Stift sinken ließ, schlief Aurek tief, doch in seinen Träumen zuckte er, als laufe er. Ingeborg beugte sich hinab, legte die Hand auf sein Fell und flüsterte: Morgen, mein Freund. Morgen gehen wir weiter.
Und sie wusste, dass der nächste Schritt nicht nur ihr gehörte, sondern beiden. Denn die Vergangenheit hatte sich in ihre Gegenwart geflochten, und es gab kein Zurück.