🐾 Teil 4: Der Weg in den Wald
Die Tage wurden länger, der Frühling tastete sich vorsichtig durch die engen Straßen von Bad Langensalza. Ingeborg spürte die Wärme der Sonne, die zum ersten Mal nach Monaten wieder auf ihre Schultern fiel. Doch in ihrem Inneren blieb es unruhig. Der Hund hatte ihr die Bank gezeigt, die Krokusse, die Tasche im Schuppen. Alles schien Hinweise zu tragen, doch die eigentliche Botschaft blieb im Dunkeln.
Am Donnerstagmorgen machte sie sich erneut auf den Weg. Sie konnte an nichts anderes denken. Ihre Nachbarin, Frau Schilling, sprach sie unterwegs an, fragte nach ihrem Befinden. Doch Ingeborg hörte kaum zu. Höflich lächelte sie, ging dann weiter. Ihr Herz schlug schneller, je näher sie der Praxis kam.
Er war wieder da. Der Hund saß wie immer an der Tür, die bernsteinfarbenen Augen auf den Eingang gerichtet. Diesmal aber wirkte er müder, als hätte ihn die Woche mehr gekostet als gewöhnlich. Seine Atmung war schwerer, sein Fell stumpfer. Ingeborg kniete sich nieder, strich ihm sanft über die Flanken.
„Du wartest auf etwas“, murmelte sie. „Aber auf was?“
Frau Gärtner trat vor die Tür, nickte ihr zu. „Er wird alt“, sagte sie leise, fast mitfühlend. „So treu er auch ist, ewig hält keiner von uns.“
Die Worte trafen Ingeborg ins Herz. Sie wusste, dass die Zeit lief, und dass jede Begegnung vielleicht die letzte sein konnte. Darum blieb sie auch heute nicht im Wartezimmer, sondern folgte dem Hund, als er aufstand und in die Gassen trottete.
Der Weg führte sie diesmal nicht in den verwilderten Garten. Stattdessen schlug er eine andere Richtung ein, hinaus aus dem Zentrum, dorthin, wo die Straßen breiter wurden und die Häuser in Felder übergingen. Ingeborg blieb dicht hinter ihm, obwohl ihre Beine bald schmerzten.
Nach einer halben Stunde erreichten sie ein kleines Waldstück. Dort blieb der Hund stehen, schnüffelte an einem alten Wegstein, als prüfe er die Spuren der Vergangenheit. Ingeborg erkannte den Ort. Vor vielen Jahren hatte Alfred sie hierher geführt, zu einem Picknick unter den Bäumen. Sie erinnerte sich an den Geruch von Brot, an den Geschmack von Äpfeln und Käse, an Alfreds Stimme, die ihr Geschichten erzählte, während Falko als junger Hund zwischen den Bäumen herumtollte.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Der Hund führte sie nicht zufällig hierher. Es war ein weiterer Ort, an dem sich ihre Erinnerungen mit Alfred und Falko verflochten.
Sie setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, während der Hund sich neben sie legte. Lange schwieg sie, lauschte nur dem Rascheln der Blätter. Schließlich sprach sie leise, mehr zu sich selbst als zu ihm. „Vielleicht willst du, dass ich mich erinnere. Dass ich nicht nur an das Ende denke, sondern an all das, was war.“
Der Hund hob den Kopf, seine Augen schimmerten im Halbdunkel des Waldes. Ein Windstoß wehte durch die Äste, und Ingeborg fühlte, wie ihr Herz leichter wurde.
Doch dann spürte sie auch die Schwere der Wirklichkeit. Ihr Herzleiden verschlimmerte sich. Sie merkte es an der Atemnot, an den Nächten, in denen sie kaum Luft bekam. Und jedes Mal, wenn sie den Hund sah, wusste sie, dass auch seine Zeit begrenzt war. Zwei alte Wesen, die noch einmal aufeinandergetroffen waren, als hätte das Schicksal es so gewollt.
Am Abend ging sie nach Hause, erschöpft, aber innerlich wachgerüttelt. Sie legte sich ins Bett, starrte an die Decke und erinnerte sich an Alfreds Stimme. Er hatte oft gesagt, dass Treue nicht in großen Gesten stehe, sondern im Bleiben. „Wer bleibt, wenn alles zerfällt, der ist wahrhaft treu“, hatte er einmal gemeint.
Vielleicht war das die Botschaft. Der Hund blieb. Auch über den Tod hinaus.
Eine Woche später nahm sie ein Stück Brot mit, als sie zur Praxis ging. Sie wollte dem Hund etwas geben, eine kleine Geste, wie man einem alten Freund begegnet. Doch an diesem Morgen war er nicht dort. Ihr Herz sank, die Angst griff nach ihr.
Sie wartete eine Stunde, dann noch eine. Schließlich machte sie sich auf den Weg zum Garten, zum Wald, suchte ihn an den Orten, die er ihr gezeigt hatte. Nichts.
Verzweifelt rief sie seinen Namen, so wie damals Alfred gerufen hatte. Ihre Stimme hallte durch die Gassen, klang fremd in der Stille. Schließlich erreichte sie den verwilderten Garten. Dort, vor der Bank, lag er. Zusammengekauert, erschöpft, die Augen halb geschlossen.
„Falko!“ rief sie und kniete neben ihn. Ihre Hände zitterten, als sie sein Fell berührte. Er lebte, doch schwach. Sein Atem ging flach, sein Körper bebte. Ingeborgs Herz zog sich zusammen. Sie wusste, er brauchte Hilfe, doch zugleich fühlte sie, dass er vielleicht nicht mehr lange bleiben wollte.
Sie blieb die ganze Nacht bei ihm. Wickelte ihn in eine Decke, die sie von zu Hause geholt hatte, sprach leise Worte, die zwischen Gebet und Erinnerung lagen. Er öffnete manchmal die Augen, sah sie an, als wollte er ihr sagen: „Es ist gut. Ich bin da.“
Und doch war da auch etwas anderes in seinem Blick. Ein Drängen, eine Erwartung, die sie nicht deuten konnte.
Am frühen Morgen, als der erste Vogel sang, richtete sich der Hund langsam auf. Er ging ein paar Schritte, taumelte, doch stand aufrecht. Dann sah er sie an, bewegte sich in Richtung der Straße. Ingeborg folgte ihm, so schnell sie konnte, ihr Herz hämmerte, als würde es jeden Moment brechen.
Sie wusste nicht, wohin er wollte. Aber sie wusste, dass dies wichtig war.
Und während der Hund mit schwankenden Schritten in die Dämmerung hinausging, spürte Ingeborg, dass er sie zu seinem letzten Geheimnis führte.