Der Hund im Wartezimmer | Jeden Donnerstag wartete er still vor der Praxis bis eine Frau sein Geheimnis erkannte

🐾 Teil 5: Die Kapelle des Erinnerns

Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich vorsichtig durch die Dächer von Bad Langensalza, als Ingeborg dem Hund hinterherging. Sein Gang war schwer, die Schritte unsicher, doch eine unsichtbare Kraft schien ihn voranzutreiben. Sie folgte ihm mit klopfendem Herzen, immer darauf bedacht, nicht den Anschluss zu verlieren.

Die Straßen waren noch still, nur wenige Menschen waren unterwegs. Ein Bäcker stellte frische Brote ins Schaufenster, eine Frau fegte vor ihrem Haus die Stufen. Niemand schenkte der alten Frau und dem Hund besondere Beachtung. Für sie war es nur ein Tier, das langsam voranschlich, und eine Witwe, die hinterherging. Doch für Ingeborg war jeder Schritt voller Bedeutung, als wäre sie Teil einer Pilgerreise.

Er führte sie hinaus aus der Stadt, vorbei an den letzten Fachwerkhäusern, über einen kleinen Feldweg, den sie seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Dort begann die Landschaft weiter zu werden. Felder, deren Erde frisch umgepflügt war, zogen sich bis zum Horizont. Über ihnen kreiste ein Bussard, sein Ruf klang klagend in der stillen Luft.

Der Hund hielt ab und zu inne, schnupperte, schien Kraft zu sammeln, dann ging er weiter. Ingeborgs Atem wurde schneller, ihre Brust schmerzte. Sie musste immer wieder stehen bleiben, die Hand auf ihr Herz pressen. Doch sie wusste, dass sie nicht umkehren durfte.

Nach einer Stunde erreichten sie einen alten Hohlweg, von hohen Hecken gesäumt. Ingeborg erinnerte sich plötzlich. Alfred hatte sie oft hier entlanggeführt. Damals, in den frühen Jahren ihrer Ehe, wenn sie Spaziergänge machten, die wie kleine Abenteuer wirkten. Sie hatten sich hier einmal verirrt, waren stundenlang gelaufen, bis die Sonne unterging, und Alfred hatte gescherzt, dass sie wohl für immer hier bleiben müssten.

Der Hund bog an einer Stelle ab, die sie kaum wiedererkannte. Dort stand eine kleine, verfallene Kapelle. Die Tür hing schief in den Angeln, die Fenster waren blind vor Staub. Doch etwas an dem Ort hatte Würde, als hielte er Erinnerungen fest, die nicht sterben wollten.

Falko setzte sich vor den Eingang, atmete schwer und sah sie an. Ingeborgs Knie wurden weich. Sie trat näher, legte die Hand auf das verwitterte Holz der Tür. Ein Zittern ging durch ihren Körper.

Innen roch es nach feuchtem Stein und altem Holz. Ein kleines Kreuz hing schief an der Wand, Kerzenreste standen noch auf einem Tisch, längst erloschen. In einer Ecke lag ein Bündel Stoff, das aussah, als wäre es vor Jahren dort abgelegt worden. Ingeborg bückte sich, hob es vorsichtig auf.

Es war eine Jacke. Sie erkannte sie sofort. Alfred hatte sie getragen, wenn er in den Garten ging oder Holz hackte. Das grobe Gewebe, die abgenutzten Ellenbogen, der Geruch, der trotz der Jahre noch anhaftete. Sie hielt den Stoff an ihre Brust, die Tränen liefen ohne Halt.

„Alfred“, flüsterte sie.

Der Hund legte sich neben sie, die Schnauze auf die Pfoten, die Augen auf sie gerichtet. Sein Blick war voller Ruhe, als hätte er endlich erreicht, was er ihr zeigen wollte.

Ingeborg setzte sich auf den kalten Steinboden der Kapelle. Sie erinnerte sich, wie Alfred manchmal hierhergekommen war, wenn er Ruhe brauchte. Er hatte ihr nie viel davon erzählt, aber sie wusste, dass er Orte suchte, an denen er nachdenken konnte. Vielleicht hatte auch der Hund ihn damals hier begleitet. Vielleicht war dies der Platz, an dem er Abschied genommen hatte, lange bevor das Schicksal ihn ereilte.

Stundenlang blieb sie dort. Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Sie sprach leise mit Alfred, erzählte ihm von den Jahren allein, von den Schmerzen, aber auch von den stillen Momenten, in denen sie noch seine Gegenwart gespürt hatte. Und der Hund war dabei, als schweigender Zeuge, als Verbindung zwischen dem Damals und dem Jetzt.

Als sie schließlich aufstand, fühlte sie eine ungewohnte Klarheit. Sie konnte den Verlust nicht ungeschehen machen, doch sie hatte das Gefühl, dass Alfred ihr durch den Hund eine letzte Botschaft geschickt hatte. Nicht Verzweiflung, nicht Schmerz – sondern Erinnerung und Treue.

Der Heimweg war schwer. Falko hinkte stark, seine Kraft schien beinahe aufgebraucht. Ingeborg musste mehrmals anhalten, ihn streicheln, ihm Mut zusprechen. Sie wusste, dass sie bald eine Entscheidung würde treffen müssen. Vielleicht sollte sie mit ihm zu einem Tierarzt gehen. Doch tief in ihrem Inneren spürte sie, dass der Hund seine Reise selbst bestimmte.

Am Abend, als sie endlich ihre Wohnung erreichte, legte er sich auf den Teppich im Flur. Es war, als hätte er beschlossen, diesmal zu bleiben. Sie deckte ihn mit einer alten Decke zu, setzte sich daneben und hielt seine Pfote in der ihren.

Die Nacht war still, und Ingeborg schlief im Sitzen ein. Als sie erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Der Hund lag noch immer da, die Augen geschlossen, der Atem flach, aber gleichmäßig. Sie lächelte schwach, streichelte über seinen Kopf und flüsterte: „Wir schaffen das. Zusammen.“

Doch in ihrem Inneren wusste sie, dass ein neuer Abschied bevorstand.

Und während der Morgen erwachte, ahnte Ingeborg, dass der Hund ihr nur noch wenig Zeit ließ, um die letzte Botschaft ihres Lebens zu verstehen.

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