🐾 Teil 6: Das stille Versprechen
Die Tage nach dem Besuch in der Kapelle verliefen für Ingeborg in einer Mischung aus Stille und Erwartung. Sie hatte das Gefühl, dass die Welt um sie herum plötzlich langsamer wurde, als wolle sie ihr Zeit schenken, die sie noch brauchte. Der Hund lag nun fast ständig in ihrer Wohnung, auf dem alten Teppich im Flur oder neben dem Ofen, wo die Wärme ihn einhüllte.
Ingeborg versorgte ihn, so gut sie konnte. Sie brachte ihm Wasser, legte kleine Stückchen Brot und gekochtes Fleisch vor ihn, die er vorsichtig und langsam fraß. Manchmal blieb er lange reglos, die Augen halb geschlossen, dann wieder hob er den Kopf und sah sie so durchdringend an, dass sie glaubte, Alfred selbst würde durch diesen Blick sprechen.
Sie sprach viel mit ihm. Worte, die sie jahrelang in sich getragen hatte, kamen nun hervor. Von der Einsamkeit nach Alfreds Tod, von den Nächten voller Sehnsucht, von der Schuld, weil sie manchmal dachte, sie hätte ihn früher zum Arzt drängen müssen. Sie sprach von den Ängsten, die sie nun begleiteten, ihrem schwachen Herzen, der Frage, wie viel Zeit ihr selbst noch blieb. Der Hund hörte zu, ohne eine Regung, und gerade in diesem Schweigen lag eine Ruhe, die sie trug.
Am Donnerstag wagte sie es dennoch wieder zur Praxis zu gehen. Sie wollte sehen, ob er erneut den Weg dorthin nahm. Zu ihrer Überraschung stand er tatsächlich auf, als hätte er noch genug Kraft für einen letzten Gang. Langsam gingen sie beide die vertrauten Straßen entlang, und vor der Tür der Praxis ließ er sich nieder, genau wie immer.
Die Menschen bemerkten ihn. Einige blieben stehen, manche schüttelten den Kopf. „Der Hund wartet wohl auf jemanden“, hörte Ingeborg einen Mann sagen. Sie lächelte bitter. „Ja“, murmelte sie, „er wartet.“
Dr. Klose kam zufällig hinaus, ein älterer Mann mit müden Augen und ruhiger Stimme. Er blieb vor dem Hund stehen, beugte sich hinab und sah ihn prüfend an. „Er ist alt“, sagte er leise zu Ingeborg. „Sehr alt. Sie sollten sich überlegen, ob er nicht Ruhe braucht.“
Ingeborg nickte. Ihr Hals war trocken. Sie wusste, dass er recht hatte. Doch gleichzeitig spürte sie, dass der Hund noch etwas zu vollenden hatte. Vielleicht war es eine Einbildung, vielleicht der Wunsch einer einsamen Frau, aber sie konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, dass er eine letzte Aufgabe zu erfüllen hatte.
An diesem Nachmittag führte er sie erneut aus der Stadt hinaus, diesmal auf einem anderen Weg. Er schleppte sich mühsam vorwärts, Ingeborg ging langsam, doch ihre Beine brannten vor Anstrengung. Schließlich kamen sie an ein Feld, am Rand stand eine kleine Bank aus Stein, halb überwuchert von Moos.
Sie erkannte den Ort sofort. Dort hatten Alfred und sie oft gesessen, wenn sie nach langen Spaziergängen zurückkehrten. Alfred hatte hier von seinen Träumen gesprochen, von Dingen, die er noch tun wollte. Sie selbst hatte gelacht, genickt, gehofft, die Zeit würde ewig dauern.
Der Hund setzte sich zu ihren Füßen, legte den Kopf auf ihre Schuhe und schloss die Augen. Ingeborgs Herz zog sich zusammen. „Willst du, dass ich mich erinnere?“ flüsterte sie. „Dass ich weiß, dass nichts verloren ist?“
Ein warmer Wind strich über die Felder. Vögel sangen, als wäre der Frühling nun wirklich da. Ingeborgs Brust weitete sich, und für einen Moment war es, als säße Alfred neben ihr. Sie hörte sein Lachen, spürte die Wärme seiner Hand auf der ihren.
Sie weinte still, während der Hund atmete, schwer und langsam. Es war, als verschmolzen Gegenwart und Vergangenheit zu einem einzigen Augenblick.
Als sie später nach Hause zurückkehrten, war sie erschöpft, doch innerlich ruhiger. Sie spürte, dass der Hund ihr half, Frieden zu finden. Doch die Sorge blieb: Wie lange würde er noch bei ihr sein?
In der Nacht wachte sie von einem Geräusch auf. Der Hund war unruhig, stand auf, ging ein paar Schritte, legte sich wieder hin, keuchte. Ingeborg kniete neben ihm, legte die Hand auf seine Flanke. „Bleib noch ein wenig“, flüsterte sie, „bitte geh nicht heute.“
Seine Augen suchten die ihren, dann beruhigte er sich, legte den Kopf wieder ab. Ingeborg wachte die ganze Nacht an seiner Seite.
Am Morgen fühlte sie sich alt und müde, doch zugleich stärker. Sie wusste, dass sie ihm nicht helfen konnte, länger zu leben, als es die Zeit zuließ. Aber sie konnte bei ihm sein. So, wie er nun bei ihr war.
In den folgenden Tagen wiederholte sich dieses stille Zusammensein. Der Hund ging kaum noch hinaus, nur kurze Schritte in den Hof, dann legte er sich wieder nieder. Ingeborg saß oft bei ihm, erzählte Geschichten, erinnerte sich an alte Zeiten. Es war, als würden sie beide auf etwas warten, ohne es benennen zu können.
Am Ende jener Woche war es wieder ein Donnerstag, als er sie noch einmal ansah. Ein langer, tiefer Blick, voller Wärme und voller Abschied zugleich. Ingeborgs Herz zog sich zusammen, Tränen stiegen auf. Sie wusste, dass dieser Blick etwas bedeutete.
Und in diesem Blick lag ein Versprechen, dass nichts verloren ging, auch wenn der Abschied schon in der Luft hing.