🐾 Teil 7: Am Grab von Alfred
Der Morgen brach still an, als hätte die Welt selbst den Atem angehalten. Ingeborg öffnete die Augen und sah, dass der Hund noch immer neben dem Ofen lag. Sein Fell glänzte matt im schwachen Licht, sein Atem ging flach, kaum hörbar. Sie setzte sich auf die Bettkante, ihr Herz pochte unruhig. Ein Teil von ihr hatte gehofft, er würde schon nicht mehr da sein, damit der Schmerz schneller käme, wie ein Schnitt. Doch er war noch da. Und gerade das machte es schwerer.
Sie kniete neben ihn, legte die Hand auf seine Seite. Wärme strömte ihr entgegen, aber schwächer als zuvor. Er hob leicht den Kopf, sah sie an. Ein Blick, müde und doch voller Vertrauen. Ingeborg spürte, dass er kämpfte, nicht um sein eigenes Leben, sondern um ihr etwas zu schenken.
Den ganzen Vormittag blieb sie bei ihm. Sie sprach kaum, nur ab und zu ein leises Wort, das wie ein Gebet klang. Erinnerungen kamen in ihr hoch, ohne dass sie sie rief. Alfred, wie er lachte, wie er den Hund rief, wie er ihr das Gefühl gab, nicht allein in der Welt zu sein.
Gegen Mittag versuchte der Hund aufzustehen. Er schwankte, seine Beine zitterten, doch er bestand darauf. Ingeborg wollte ihn zurückhalten, doch sie verstand sofort, dass er irgendwohin musste. Sie zog ihren Mantel an, griff nach dem Schal und folgte ihm, als er langsam zur Tür hinausging.
Sie gingen durch die Straßen der Stadt, langsam, Schritt für Schritt. Passanten blieben stehen, manche sahen mitleidig, andere schüttelten den Kopf. Doch Ingeborg war es gleichgültig. Alles, was zählte, war dieser Gang.
Der Hund führte sie hinaus zum kleinen Friedhof am Rande der Stadt. Dort, wo die alten Linden Schatten warfen und die Wege von Kieseln knirschten. Ingeborgs Brust wurde eng, als sie das eiserne Tor aufstieß. Sie wusste genau, wohin er sie brachte.
Vor einem schlichten Grabstein blieb er stehen. Alfred Wittich, stand dort. Geboren 1942, gestorben 2004. Ingeborgs Knie gaben fast nach. Sie griff nach dem Kreuz, das über dem Stein ragte, um Halt zu finden. Der Hund legte sich nieder, direkt vor das Grab, als wollte er Wache halten.
Tränen liefen ihr über das Gesicht. „So lange hast du gewartet“, flüsterte sie. „So lange, bis du mich wieder hierherführst.“
Sie setzte sich auf die kalte Steinbank neben dem Grab. Stundenlang blieb sie dort, während der Hund still lag, reglos, nur sein Atem verriet, dass er noch da war. Ingeborg sprach zu Alfred, erzählte ihm von den Jahren allein, von den Sorgen, von den Nächten voller Leere. Und sie sprach vom Hund, der all die Jahre verschwunden war und nun zurückgekehrt war, als wolle er ihr helfen, den letzten Schritt zu gehen.
Der Himmel färbte sich orange, als die Sonne unterging. Der Hund hob noch einmal den Kopf, sah zu ihr, dann zu dem Grabstein. Es war ein Blick, den Ingeborg niemals vergessen würde. Ein Blick, der sagte: Hier ist mein Platz. Und hier ist auch deiner.
Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf, das Fell war rau, die Wärme schwach. „Danke“, flüsterte sie. „Danke, dass du mich zurückgebracht hast.“
Die Dunkelheit fiel über den Friedhof. Ingeborg spürte die Kälte, doch sie blieb sitzen. Der Hund war eingeschlafen, sein Atem ging unregelmäßig. Sie wusste, dass die Nacht vielleicht die letzte war, die sie mit ihm verbringen würde.
Und doch empfand sie keinen reinen Schmerz. Es war etwas anderes, etwas Tieferes. Ein stilles Verstehen, dass Treue nicht endet, nur weil das Leben endet. Dass ein Teil von Alfred immer bei ihr war, und dass der Hund gekommen war, um sie daran zu erinnern.
Spät in der Nacht stand sie auf, schwer und müde. Sie beugte sich zu dem Hund, streichelte noch einmal seinen Kopf. „Komm, wir gehen nach Hause“, sagte sie leise. Er öffnete die Augen, erhob sich mühsam und folgte ihr langsam den Weg zurück.
Sie gingen schweigend durch die stillen Straßen, vorbei an dunklen Häusern, bis sie wieder ihre Tür erreichten. Dort legte er sich sofort auf den Teppich, schloss die Augen und bewegte sich nicht mehr. Ingeborg setzte sich neben ihn, nahm seine Pfote in ihre Hände und spürte, wie ihr eigenes Herz ruhiger schlug.
In dieser Nacht träumte sie von Alfred. Er stand in ihrem alten Garten, das Licht der Abendsonne auf seinem Gesicht, und neben ihm saß der junge Falko. Beide lächelten.
Als Ingeborg erwachte, wusste sie, dass der Hund ihr die letzte Brücke gebaut hatte – zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Abschied und Hoffnung.