🐾 Teil 8: Die letzte Nacht
Am nächsten Morgen hing der Nebel schwer über der Stadt. Ingeborg trat ans Fenster und sah, wie die Dächer im Dunst verschwanden. Die Nacht hatte sie kaum schlafen lassen, zu stark war das Bild von Alfred und dem jungen Falko in ihrem Traum gewesen. Es fühlte sich nicht wie eine bloße Erinnerung an, sondern wie eine Botschaft, die zwischen den Welten gesendet worden war.
Der Hund lag noch immer auf dem Teppich im Flur. Er hob leicht den Kopf, als sie sich ihm näherte, doch seine Kraft war schwach. Sein Blick war klar, fast zu klar, als wüsste er, dass die Zeit knapp war. Ingeborg kniete sich nieder, legte ihre Hand auf sein Fell und spürte, dass er nur noch für sie da war.
Sie sprach mit ihm, leise, ohne Pausen, als wollte sie ihm alles sagen, bevor es zu spät war. Von der Leere nach Alfreds Tod, vom Mut, den sie so lange gesucht hatte, und von der Angst vor dem eigenen Ende. Ihre Worte füllten den Raum, während der Hund ruhig lauschte.
Gegen Mittag stand er mühsam auf. Ingeborg erschrak, doch er ging zur Tür, blieb davor stehen und wartete. Sie verstand sofort. Er wollte hinaus, ein letztes Mal. Also zog sie ihren Mantel über, schob ihre Füße in die Schuhe und öffnete ihm die Tür.
Langsam gingen sie die vertrauten Straßen entlang. Vor der Praxis von Dr. Klose blieb er stehen, setzte sich nieder. Ingeborgs Herz zog sich zusammen. Die Passanten, die ihn inzwischen kannten, blieben stehen, einige lächelten traurig. Eine Frau legte sogar ihre Hand an die Brust und flüsterte: „So treu.“
Ingeborg setzte sich neben ihn auf die kleine Bank vor dem Eingang. „Das ist also der Ort, an dem du immer gewartet hast“, sagte sie leise. „Der Ort, an dem ich dich wiederfinden sollte.“
Der Hund legte den Kopf auf ihre Knie. Sie strich ihm sanft über die Stirn. Minuten wurden zu Stunden. Menschen gingen ein und aus, sprachen, tuschelten, doch für Ingeborg gab es nur dieses Schweigen, dieses stille Zusammensein.
Als der Nachmittag kam, stand er auf und ging weiter. Diesmal führte er sie hinaus zu dem Feldweg, den sie erst wenige Tage zuvor gegangen waren. Sie spürte, dass er Abschied nehmen wollte, und ihr Herz klammerte sich verzweifelt an den Gedanken, dass sie ihn nicht loslassen konnte. Doch sie wusste auch, dass das Leben nicht nach ihren Wünschen ging.
Sie erreichten das Feld, wo die Bank aus Stein stand. Der Hund legte sich dort nieder, streckte die Pfoten aus, seufzte tief, als sei er endlich angekommen. Ingeborg setzte sich neben ihn, ihre Hände auf seinem Fell.
„Ich habe verstanden“, flüsterte sie. „Du wolltest, dass ich zurückfinde. Zu Alfred. Zu mir. Zu dem, was wir waren.“
Die Sonne sank langsam am Horizont. Goldene Strahlen fielen über die Felder, tauchten den Ort in ein warmes Licht. Ingeborg hatte das Gefühl, dass die Zeit stillstand. Alles, was blieb, war dieser Moment, dieses stille Versprechen, dass nichts verloren war.
Sie blieb, bis die Schatten länger wurden. Der Hund schlief ein, wachte wieder auf, sah sie an, als wollte er prüfen, ob sie wirklich verstanden hatte. Sie nickte nur, Tränen liefen ihr über das Gesicht, doch sie fühlte keinen reinen Schmerz mehr. Eher eine stille Dankbarkeit.
Als die Dunkelheit kam, erhob sie sich mühsam. „Komm“, sagte sie sanft. Der Hund stand zögerlich auf, folgte ihr langsam, Schritt für Schritt. Es war ein stiller Heimweg, ohne Worte, ohne Geräusche außer dem Rascheln des Windes in den Hecken.
Zurück in ihrer Wohnung legte er sich auf den Teppich im Flur, wie an jedem Abend. Ingeborg setzte sich daneben, zog die Decke über ihn und nahm seine Pfote in ihre Hände. Sie spürte, wie schwach er war, und sie wusste, dass die nächste Nacht entscheidend werden würde.
Sie blieb wach. Kein Schlaf drängte sich auf. Stattdessen erinnerte sie sich an all die Jahre, die Alfred und sie geteilt hatten. Die Reisen, die Abende im Garten, die Stille an Wintertagen, die Wärme in den Sommernächten. Und der Hund, der immer da war, treu und geduldig.
Gegen Mitternacht hob er noch einmal den Kopf, sah sie an. Sein Blick war nicht schwach, sondern stark, klar, voller Ruhe. Ingeborgs Atem stockte. Sie beugte sich zu ihm, legte die Stirn an seine Schnauze. „Ich lasse dich gehen“, flüsterte sie. „Aber du wirst immer hier sein.“
Der Hund schloss die Augen, atmete tief ein, dann langsam aus. Sie wusste, dass der Moment nahe war, doch sie hielt ihn fest, streichelte ihn, sprach mit ihm, bis ihr die Stimme versagte.
Die Nacht verging. Der Morgen begann sich anzukündigen, ein schwaches Licht schob sich durch die Vorhänge. Der Hund lag still, sein Atem kaum mehr hörbar. Ingeborgs Herz schlug heftig, Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Es war der Moment, an dem sie verstand, dass die Reise des Hundes bald enden würde. Und dass er ihr alles gegeben hatte, was er konnte.
Und als der erste Vogel sang, wusste Ingeborg, dass sie kurz davor stand, den schwersten Abschied ihres Lebens zu vollziehen und zugleich den friedlichsten.