🐾 Teil 9: Abschied im Kerzenschein
Das schwache Morgenlicht fiel durch die Vorhänge, als Ingeborg erwachte. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie überhaupt eingeschlafen war, zusammengesunken auf dem Stuhl neben dem Hund. Ihr Nacken schmerzte, ihre Hände waren kalt, doch ihr erster Blick galt ihm.
Er lag noch immer auf dem Teppich, die Pfoten ausgestreckt, die Augen geschlossen. Sein Atem war kaum mehr hörbar, ein Flüstern des Lebens, das sich langsam zurückzog. Ingeborgs Herz zog sich zusammen. Sie kniete neben ihn, legte die Hand auf sein Fell. Die Wärme war noch da, aber schwächer, flüchtiger.
„Ich bin bei dir“, flüsterte sie. „Du gehst nicht allein.“
Die Stunden des Vormittags vergingen in tiefer Stille. Sie wagte kaum, sich zu bewegen. Immer wieder streichelte sie ihn, sprach leise Worte, die mehr für sie selbst bestimmt waren als für ihn. Erinnerungen stiegen in ihr auf, Bilder aus Jahrzehnten, als würden sie jetzt noch einmal durchlebt, bevor der letzte Vorhang fiel.
Mittags wagte sie aufzustehen, um ein Glas Wasser zu holen. Als sie zurückkam, hob er langsam den Kopf, sah sie an, und in diesem Blick lag noch immer eine Klarheit, die sie zugleich tröstete und erschütterte. Sie setzte sich sofort wieder neben ihn, nahm seine Pfote in ihre Hände.
Es war, als wollte er warten. Nicht gehen, bevor sie wirklich bereit war.
Am Nachmittag wurde der Himmel dunkel, ein Gewitter zog auf. Donner rollte in der Ferne, Regen peitschte gegen die Fenster. Ingeborg saß still, der Hund lag neben ihr, und sie fühlte, wie sehr die Welt draußen ihr eigenes Inneres spiegelte. Alles schien in Bewegung, und doch war da auch ein Frieden, der den Raum erfüllte.
In einem Moment der Stille beugte sie sich zu ihm, legte die Stirn an sein Fell. „Du hast mich zu Alfred zurückgebracht“, flüsterte sie. „Du hast mir gezeigt, dass ich nicht vergessen darf. Dass Liebe bleibt.“
Der Hund bewegte sich kaum, doch sie spürte, wie sein Atem noch einmal tiefer ging, als hätte er verstanden.
Die Dunkelheit senkte sich über die Stadt. Ingeborg zündete eine kleine Kerze an, stellte sie neben den Hund. Das flackernde Licht tauchte den Raum in Wärme, und sie fühlte sich zurückversetzt in jene Abende mit Alfred, als sie im Garten saßen und nur der Schein einer Laterne das Dunkel durchbrach.
Die Nacht war lang. Kurz vor Mitternacht öffnete der Hund die Augen, blickte sie an, und in diesem Blick lag kein Schmerz mehr, nur Ruhe. Ingeborgs Herz stockte. Sie drückte seine Pfote fester, ihre Lippen bebten. „Du darfst gehen“, flüsterte sie. „Ich halte dich nicht fest.“
Ein letzter Atemzug, kaum hörbar, dann noch einer, tiefer, ruhiger. Dann Stille.
Ingeborg saß da, erstarrt. Die Kerze flackerte, der Regen schlug leiser gegen das Fenster. Minuten vergingen, bis sie begriff, dass er gegangen war. Die Tränen kamen nicht sofort, sondern erst, als sie seine Pfote an ihre Wange drückte. Da brach es aus ihr heraus, leise, unaufhaltsam.
Sie blieb die ganze Nacht neben ihm, unfähig, sich zu rühren. In den frühen Morgenstunden, als das erste Licht den Raum berührte, fühlte sie eine seltsame Ruhe. Der Hund war fort, doch etwas von ihm war geblieben. Eine Stille, die nicht leer war, sondern gefüllt mit Erinnerung und Trost.
Sie stand auf, deckte ihn behutsam mit der Decke zu. Dann setzte sie sich an den Tisch, ihre Hände um eine Tasse Tee, die längst kalt geworden war. Sie sah hinaus auf die erwachende Stadt, und zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte sie nicht nur Verlust, sondern auch Dankbarkeit.
Am Vormittag rief sie den Tierarzt an, der sie seit langem kannte. Mit leiser Stimme erklärte sie, was geschehen war. Er versprach, noch am selben Tag zu kommen, um ihr zu helfen, den Hund würdig zu verabschieden.
Bis dahin blieb sie bei ihm. Sie sprach mit ihm, so als könnte er noch hören. Worte von Dank, Worte von Liebe. Und dann wandte sie sich an Alfred, leise, vorsichtig, als würde er im Raum sein. „Er ist jetzt bei dir. Pass gut auf ihn auf.“
Der Nachmittag verging in einer sonderbaren Klarheit. Der Schmerz war groß, aber er erdrückte sie nicht mehr. Sie wusste, dass sie den letzten Schritt getan hatte, den schwersten und zugleich den friedlichsten.
Als die Sonne unterging, trat sie hinaus auf den Balkon. Die Luft war frisch nach dem Gewitter, Vögel sangen, als sei nichts geschehen. Ingeborg schloss die Augen und atmete tief ein. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie, dass sie nicht mehr allein war.
Und während die Nacht wieder über die Stadt fiel, spürte Ingeborg, dass der Hund ihr das größte Geschenk hinterlassen hatte: die Gewissheit, dass Liebe den Tod überdauert.