Teil 8 – Die Kinder am Gleis
Der Frühling schleicht sich sacht in den Wald.
Schneeglöckchen blühen zwischen den Bahnschwellen.
Walter steht wieder am Bahnhof Eschwege West – diesmal nicht als Passagier, sondern als Erzähler.
Ein paar Kinder sitzen im Halbkreis auf Decken, die Eltern lehnen an den Geländern.
Moritz liegt in der Mitte, halb wach, halb dösend – sein schiefes Ohr hebt sich, wenn ein Vogel ruft.
Auf seinem Rücken ruht eine kleine Hand. Das Mädchen heißt Lara und kommt jeden Sonntag mit Kakao ohne Zucker für „den alten Herrn und den alten Hund“.
Walter erzählt von früher:
Von Lokomotiven mit Namen. Von Nächten im Stellwerk. Von Weichen, die man noch mit der Hand gestellt hat.
Er zeigt alte Fotos, hält eine rostige Pfeife hoch, die einmal ein Zug anhielt.
Die Kinder hören zu wie bei einem Märchen.
Nach jeder Geschichte gibt es Tee – ohne Zucker, mit Zimt.
Und eine kurze Pause, in der Walter seinen Blutzucker misst.
Er macht das offen. Ohne Scham. Sogar mit einem Lächeln.
„Das hier“, sagt er und hebt den kleinen Piekser, „hält mich auf den Gleisen.“
Moritz wird langsam schwächer.
Er frisst nur noch kleine Portionen. Die Tabletten helfen, aber sein Blick wird glasiger.
Doch wenn Kinder kommen, steht er auf.
Schwankt zwar – aber steht. Wie ein alter Soldat beim Zapfenstreich.
Ein Junge namens Emil bringt eines Tages eine selbstgebastelte Medaille:
Auf rotem Karton steht: „Bester Lebensretter mit Fell“
Walter hängt sie Moritz um und sagt: „Na Bub, ab heute bist du offiziell mein Stellvertreter.“
Abends, zurück in der Hütte, legt Walter den Orden vorsichtig auf den Tisch.
Daneben das Foto von Elisabeth, die Taschenuhr und ein kleiner, gebrauchter Insulinpen.
„Wir beide sind alt“, murmelt er und sieht Moritz an. „Aber wir haben noch ein bisschen Zeit. Und vielleicht noch ein paar Fahrten.“
Draußen rauscht ein Zug vorbei.
Nicht schnell. Nicht laut.
Aber der Hund hebt den Kopf. Und Walter – er lächelt leise.
Lies weiter in Teil 9 – Abschied mit Versprechen