Der Hund mit dem roten Schal | Fünfzehn Jahre Trauer bis ein Hund mit rotem Schal plötzlich vor ihrer Tür stand

Manchmal tauchen Erinnerungen nicht in alten Briefen auf, sondern an der Leine eines Fremden.

Ein namenloser Hund brachte eines Tages etwas mit, das seit fünfzehn Jahren verloren geglaubt war.

Ein Stück Wolle, von schwachen Händen gestrickt, das einst Liebe und Wärme getragen hatte.

Doch wer konnte ahnen, dass dieses Stück Stoff eine ganze Vergangenheit ins Heute zurückholen würde?

Und dass ein Herz, das längst resigniert hatte, plötzlich wieder zu schlagen begann?

🐾 Teil 1: Das Auftauchen

Es war ein stiller Nachmittag im Spätherbst, als Margarete Völkel das Knarren der Gartenpforte hörte. Sie lebte seit Jahren allein am Rand von Lorch im Taunus, einem kleinen Städtchen, das zwischen Weinbergen und Wäldern wie eingeklemmt lag. Der Wind wehte kalt durch die engen Gassen, trug den Geruch von feuchtem Laub und Rauch aus den Kaminen mit sich.

Margarete war zweiundsiebzig, eine Frau mit tiefen Linien im Gesicht, die von Kummer und vom Wetter gezeichnet waren. Ihr Mann, Erich Völkel, war vor fünfzehn Jahren bei einem Arbeitsunfall in der Papierfabrik ums Leben gekommen. Seitdem hatte sie gelernt, das Alleinsein wie einen Mantel zu tragen, manchmal schützend, manchmal erdrückend.

Sie war gerade dabei, die letzte Wäsche von der Leine zu nehmen, als sie es sah: Ein Hund stand unsicher am Gartenzaun. Nicht groß, aber kräftig gebaut, das Fell schmutzig und verfilzt. In seinen Augen lag eine Müdigkeit, die nur Tiere kennen, die lange auf der Straße gelebt haben. Um seinen Hals hing etwas Rotes, verwittert und voller Knoten.

Margarete blinzelte, trat näher und griff unwillkürlich nach dem Holz des Zauns. Ihr Atem stockte.

Es war ein Strickschal.

Nicht irgendeiner. Sondern der Schal, den sie selbst gestrickt hatte, in langen Winterabenden am Küchentisch, als Erich noch lebte. Die Maschen waren unregelmäßig, die Wolle ein dunkles Rot, das sie damals aus einem Restposten in Wiesbaden geholt hatte. Erich hatte ihn jeden Tag getragen, besonders auf dem Fahrrad zur Arbeit. Nach seinem Tod war der Schal verschwunden – vielleicht im Krankenhaus, vielleicht irgendwo im Chaos jener Tage. Sie hatte nie erfahren, wohin er gekommen war.

Jetzt hing er um den Hals eines herrenlosen Hundes.

Margarete legte die Wäsche beiseite und öffnete vorsichtig das Gartentor. Der Hund wich zurück, knurrte leise, doch seine Beine zitterten vor Schwäche. Sie blieb stehen, sprach leise Worte, wie man sie sonst Kindern zuflüstert. „Na komm, Bursche. Niemand tut dir hier weh.“

Es dauerte lange Minuten, doch schließlich ließ der Hund sie nahe genug heran. Sie sah, dass er ein Rüde war, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, mit grauen Haaren an der Schnauze. Das Fell war schwarz mit braunen Flecken, seine linke Vorderpfote leicht vernarbt. Jemand musste ihn einmal besessen haben, aber nun war er offenbar allein.

Mit zitternden Fingern berührte sie den Schal. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie die vertraute Struktur der Wolle spürte. „Mein Gott, Erich…“ flüsterte sie.

Der Hund senkte den Kopf, als hätte er verstanden, und ließ sie den Schal lösen. Darunter kam ein dünner Strick, notdürftig verknotet, zum Vorschein. Wer auch immer ihn dort festgebunden hatte, hatte es nicht aus Liebe getan.

Margarete führte ihn vorsichtig in den Garten. Er trank gierig aus der alten Schüssel neben der Regentonne, dann legte er sich erschöpft auf den kalten Boden. Margarete stand da, unfähig, den Blick von dem roten Schal in ihren Händen zu lösen.

Die Nachbarin, Frau Kleinschmidt, kam gerade vom Einkaufen zurück und blieb stehen. „Margarete! Wo haben Sie den denn her?“ rief sie und zeigte auf den Hund.

„Er ist mir zugelaufen“, antwortete Margarete leise.

„Na, so einen Zerlumpten hätte ich auch nicht genommen. Bestimmt voller Flöhe.“ Frau Kleinschmidt schnaubte und ging weiter.

Margarete aber kniete sich neben den Hund, legte vorsichtig den Schal wieder um seinen Hals. „Du bist anders“, murmelte sie. „Du bist nicht einfach irgendein Hund. Du bist… ein Bote.“

Am Abend bereitete sie etwas Eintopf vom Vortag auf, stellte eine Schale für den Hund ab und setzte sich ans Fenster. Sie beobachtete ihn im schwachen Licht der Laterne. Er fraß langsam, als ob er nicht gewohnt wäre, so viel auf einmal zu haben.

„Wie soll ich dich nennen?“ überlegte sie laut. Namen hatten Gewicht, das wusste sie. Schließlich blieb ihr Blick an der dunklen Waldlinie hängen, die sich hinter den Weinbergen erhob. „Rauhnacht“, sagte sie leise, fast feierlich. „Ja. So sollst du heißen. Rauhnacht.“

Der Hund hob kurz den Kopf, als hätte er den Klang akzeptiert.

In dieser Nacht schlief Margarete schlecht. Immer wieder wachte sie auf, stand am Fenster und sah nach Rauhnacht, der zusammengerollt unter der alten Bank lag. Und jedes Mal hielt sie den roten Schal in den Händen, unfähig, ihn loszulassen.

Am nächsten Morgen, als der Nebel tief über den Wiesen hing, hörte sie plötzlich Schritte auf dem Kiesweg vor dem Haus. Jemand blieb stehen. Ein Schatten bewegte sich langsam am Zaun.

Margarete trat hinaus, das Herz hämmerte in ihrer Brust. Vor dem Zaun stand ein alter Mann mit gebeugtem Rücken, den sie in Lorch noch nie gesehen hatte. Seine Augen fielen auf Rauhnacht. Dann auf den Schal.

Sein Blick verhärtete sich. „Woher haben Sie diesen Hund?“ fragte er mit rauer Stimme.

Margarete spürte, wie sich die Kälte nicht nur von außen, sondern auch von innen in ihr ausbreitete.

Etwas an diesem Mann passte nicht.

Und sie ahnte, dass mit Rauhnacht ein Rätsel in ihr Leben getreten war, das viel tiefer ging, als sie sich vorstellen konnte.

„Manchmal bringt ein Hund mehr zurück als nur sich selbst“, murmelte sie.

Der Mann griff nach dem Zaunpfosten, und in seinen Augen lag ein Wissen, das Margarete erschreckte.

🐾 Teil 2: Spuren im Nebel

Der Mann hielt den Blick auf Rauhnacht gerichtet. Seine Hände umklammerten den Zaunpfosten, als müsste er sich daran festhalten. Der Wind trieb kalte Nebelfetzen über den Kiesweg und ließ die trockenen Blätter tanzen.

Margarete räusperte sich und nannte ihren Namen. Die Höflichkeit war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, auch wenn ihr Herz raste. Der Mann nickte kaum sichtbar.

Er sagte, er heiße Ewald Finsterbusch und komme aus Espenschied. Seine Stimme war rau wie altes Holz. Er fragte noch einmal leise, woher sie den Hund habe.

Margarete erzählte knapp vom gestrigen Abend. Vom vorsichtigen Nähern. Vom Durst. Von dem Schal in ihren Händen. Sie spürte, wie das Wort Schal in der Luft liegen blieb, als hätte es Gewicht.

Ewalds Blick rutschte an ihr vorbei zu dem roten Stoff. Er trat einen Schritt näher, blieb aber draußen. Seine Schuhe waren vom Hang feucht, an der Sohle klebte Lehmerde. Die Kälte stand zwischen ihnen wie eine dritte Person.

Er sah Margarete an und fragte, ob sie wisse, dass im Saum des Schals ein dünner Faden aus anderer Wolle liege. Ein Faden, der wie eine Unterschrift sei. Er sagte es, als spräche er von etwas Intimem.

Margarete blinzelte. Sie erinnerte sich. An die Winterabende, an Erichs Hände, die den Tee wärmten. Sie hatte damals einen kaum sichtbaren Markierungsfaden eingezogen, weil die Maschen unruhig waren. Ihr Gesicht wurde weich, dann stiegen ihr die Tränen in die Augen.

Sie bat Ewald herein. Es roch nach Waschseife und Eintopf, nach Wolle und Ofen. Rauhnacht hob den Kopf, seine Ohren zuckten, dann blieb er ruhig liegen.

Am Küchentisch breitete Margarete den Schal aus. Die Kanten waren ausgeleiert, an einer Ecke hing eine ausgefranste Quaste. Sie drehte den Saum, tastete mit dem Daumen die Naht entlang. Und da war er, ein kaum dunklerer Faden, einmal quer durch eine Stelle, die nur sie kannte.

Ewald veränderte seine Haltung. Es war, als fiele ihm eine Last von den Schultern und als käme eine andere sofort nach. Er sagte, er habe den Schal vor wenigen Tagen aus einer Kiste im Pfarrkeller von St. Martin in Lorchhausen gezogen. Ihre Altkleider wurden sortiert, bevor der Winter kam. Er habe geholfen, weil er Hände brauche, wenn die Nächte wieder lang würden.

Er erzählte, wie er am Wisperufer einen Hund gesehen habe, eingefädelt in Brombeerranken. Der Hund habe nicht gebellt, nur geknurrt vor Schmerz. Ewald habe nichts bei sich gehabt als seine Taschenlampe, einen Apfel und den Schlüsselbund. Jemand hatte oben am Pfarrheim ein Bündel Kleider abgelegt, darunter lag der rote Schal. Er habe ihn abgerissen und als Leine benutzt, um den Hund zu befreien.

Margarete hörte zu und legte beide Hände flach auf den Tisch. Die Adern standen hervor. Sie stellte Ewald eine Tasse Tee hin und eine zweite Schale Wasser für Rauhnacht. Der Hund trank langsamer als am Vortag. Er wirkte wacher, als hätte er verstanden, dass das Haus kein Provisorium war.

Ewald sagte, der Hund habe ihn noch bis zur Brücke begleitet. Dann sei er fortgerannt, als hätte er einen Plan. Später habe Ewald im schwachen Licht der Sakristei den fremden Faden im Saum gesehen. Er habe die Buchstaben E und V zu erkennen geglaubt, kaum mehr als ein Schatten in der Wolle. Er habe das Gefühl nicht losbekommen, jemandem damit ins Herz zu greifen.

Margarete stand auf und holte aus der Anrichte eine kleine Blechdose. Sie war matt und verbeult, in die Deckelrundung waren zwei Initialen eingeritzt. E V. Darin hob sie seit Jahren eine Fahrradklingel auf, blank poliert von Daumen und Erinnerung. Daneben lag der Schlüssel zum Schuppen, der seit Erichs Tod nie mehr benutzt wurde.

Sie stellte die Dose neben den Schal. Ewald strich mit dem Zeigefinger an der Dose entlang, als lese er den Staub. Margarete sagte leise, Erich sei im Herbst zweitausendzehn gestorben. Fünfzehn Jahre. Die Zahl lag nüchtern zwischen ihnen und brannte doch.

Rauhnacht stand auf und kam näher. Er legte den Kopf an Margaretes Knie. Sein Fell roch nach nasser Erde und ein wenig nach Rauch. An der linken Vorderpfote zeigte sich die alte Narbe, eine helle Stelle in der dunklen Färbung.

Ewald betrachtete den Hund genauer. Das linke Ohr war an der Spitze eingerissen, als hätte der Wind es einmal zu fest gepackt. Ein Zahn stand schief, ein anderer war abgenutzt. Dieser Körper erzählte seine eigene Biografie, und in jeder Zeile stand das Wort Unterwegs.

Sie sprachen über Lorch, über die Papierfabrik, die nicht mehr arbeitete. Über Schichten, die endeten, als wäre jemand durchs Werk gegangen und hätte das Licht ausgedreht. Ewald hatte dort nicht gearbeitet, aber als junger Mann oft am Pförtnerhäuschen gestanden. Er kannte den Ton der Sirene, die den Mittag ankündigte, und den Geruch von Zellstoff auf den Fahrrädern der Männer.

Margarete erzählte zögernd von dem Tag, als Erich nicht zurückkam. Vom Anruf. Von dem Schal, der plötzlich nicht mehr im Haus war. Sie hatte gedacht, er sei irgendwo im Krankenhaus verloren gegangen, vielleicht unter einer Decke verschoben, vielleicht in einer Tasche vergessen. Sie war zu müde gewesen, um danach zu suchen.

Ewald nahm einen Schluck Tee. Er sagte, es gebe noch einen Ort, den er nicht erwähnt habe. Ein altes Häuschen am Werktor, das länger als alles andere stehen geblieben sei. Dort hingen einmal Jacken, Mützen, Schals. Manchmal blieb etwas liegen und niemand holte es ab. Die Jahre legten Staub darüber wie Schnee.

Er hätte nicht gedacht, dass ein Stück Stoff so lange überdauert. Doch im Pfarrkeller hatten sie vor Wochen Säcke aus einer Werkauflösung bekommen. Jemand hatte die Reste geholt, bevor das Gebäude geräumt wurde. Der Schal war dabei.

Margarete spürte, wie die Welt einen Millimeter nachgab. Sie griff nach dem Schal und hielt ihn an ihr Gesicht. Wolle hat ein Gedächtnis. Es speichert Geruch, Form, Wärme. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie glaubte, den Hauch einer Zeit zu spüren, in der Erich auf dem Hof die Holzscheite trug.

Ewald sah auf Rauhnacht. Er sagte, er habe den Hund bereits früher in der Gegend gesehen. Nicht regelmäßig, aber zu bestimmten Stunden. Gegen Abend, wenn die Kälte aus dem Tal kroch, trottete er den Weg zur alten Fabrik hinunter. Er setzte sich vor das Pförtnerhäuschen und wartete. Niemand kam. Der Hund wartete trotzdem.

Margarete stand abrupt auf. Der Stuhl schrammte über den Boden. Sie ging zum Fenster und sah in den Garten. Die Birke stand schwarz gegen den nebligen Himmel. Rauhnacht hatte die Ohren aufgestellt, als hätte er den Namen des Ortes gehört.

Sie fragte Ewald, ob er mit ihr hinuntergehen würde. Nicht morgen, nicht irgendwann. Heute, bevor es dunkel wurde. Ewald nickte ohne zu überlegen. Er zog die Mütze tiefer und trat an die Tür.

Margarete legte den roten Schal Rauhnacht um. Nicht zu fest. Es war kein Halsband, es war eine Erinnerung, die warm hielt. Der Hund ließ es sich gefallen. Er stellte sich neben die Tür, so ruhig wie ein guter Gedanke.

Der Weg zur Fabrik führte am Friedhof vorbei. Die Namen auf den Steinen waren vertraut, manche zu nah. Unter ihren Sohlen knirschte dünnes Eis. Rauchschwaden stiegen aus den Schornsteinen, verloren sich im Grau.

An der Wisper stand das Wasser hoch. Es trug Blätter wie kleine Boote. Eine Amsel flog auf, als sie die Brücke betraten. Ewald lief einen halben Schritt voraus, als kenne er jeden Nagel im Geländer.

Das Werktor war verriegelt, aber der Zaun zur Seite hin war an einer Stelle eingesunken. Rauhnacht canterte nicht, er ging. Seine Pfoten fanden den Pfad zwischen Scherben und Brennnesseln. Er blieb zweimal stehen und prüfte die Luft, dann schob er sich durch eine Lücke, die ein Fuchs hinterlassen haben mochte.

Margarete blieb kurz zurück. Sie strich über das kalte Gitter und fühlte, wie die Nässe an ihren Fingern blieb. Das war der Ort, an dem so viel begonnen und geendet war. Hinter ihr stand Ewald und atmete langsam.

Sie folgten Rauhnacht zum Pförtnerhäuschen. Das Holz der Tür war grau und gesplittert. Ein Fenster war verrammelt, das andere offen, als hätte jemand nur kurz frische Luft hereinlassen wollen und sei nie zurückgekommen.

Drinnen riechte es nach altem Papier, nach feuchtem Putz und Eisen. Eine Uhr hing schief an der Wand, der Zeiger blieb kurz vor der vollen Stunde stehen. Auf einem Haken an der hinteren Wand hing nichts mehr. Nur ein heller Abdruck zeichnete die Umrisse dessen nach, was dort einmal gehangen hatte.

Rauhnacht schnupperte an einer Ecke. Er stieß mit der Pfote gegen etwas Metallisches. Es rollte einen halben Meter und blieb liegen. Ewald hob es auf und hielt es in das graue Licht, das durch den Fensterrahmen fiel.

Es war eine rostige Glocke, die einmal an einem Fahrradlenker gesessen haben mochte. Der Klingelknopf klemmte. Eine Spur polierten Metalls schimmerte, als ob ein Daumen dort oft gelegen hatte. Ewald sah zu Margarete hinüber, und in seinem Blick lag die Frage, die niemand stellen wollte.

Margarete stand ganz still. Sie legte die rechte Hand an die Brust und die linke an den Schal. Ihre Finger wurden kalt, doch der Schal blieb warm. Sie hörte ihren Atem und noch etwas, das der Atem verdeckte.

Rauhnacht hob den Kopf. Seine Ohren stellten sich auf. Sein Körper spannte sich an, ohne zu zittern. Er sah zur Tür, als erwarte er ein Zeichen.

Dann vibrierte die Glocke unter Ewalds Finger.

Ein einziger, heller Ton.

🐾 Teil 3: Die Glocke im Dunkel

Die Glocke klang nicht laut, eher wie ein Zittern im Metall. Doch in der Stille des alten Pförtnerhäuschens war es wie ein Schlag. Margarete hielt den Atem an. Ihr Herz hämmerte, als hätte es jahrelang auf diesen Ton gewartet.

Ewald drehte die kleine Fahrradklingel in seinen Händen. Er sagte, es sei kaum möglich, dass sie nach so vielen Jahren noch einen Ton von sich gebe. Rost fraß das Metall, doch irgendwo im Inneren steckte noch Kraft.

Margarete trat näher. Sie legte vorsichtig die Fingerspitzen auf die Glocke. Sie war kalt, aber unter dem Rost erkannte sie eine Stelle, die heller war, blank gerieben von unzähligen Berührungen. Erichs Daumen hatte hier gelegen, das wusste sie. Ihr Atem ging stoßweise, und plötzlich stiegen ihr Bilder in den Kopf: Erich, wie er auf dem Rad saß, wie er lachte, wie er den Schal enger zog.

Rauhnacht knurrte leise, nicht drohend, sondern als wollte er sie warnen, dass dies kein gewöhnlicher Ort war. Sein Blick war auf die dunkle Ecke des Raums gerichtet.

Ewald folgte dem Blick des Hundes. In der Ecke lagen alte Aktenordner, aufgequollen von Feuchtigkeit. Die Beschriftungen waren verblasst, manche Buchstaben kaum lesbar. Er bückte sich, zog einen Ordner heraus und legte ihn auf den Tisch, der unter Staub und Spinnweben fast zerfiel.

Margarete schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht die Kraft, noch mehr alte Wunden aufzuschlagen. Doch Ewald schlug den Ordner auf. Zwischen grauen Blättern steckte ein vergilbter Zettel, handschriftlich beschrieben. Er las ein paar Worte und blieb stumm.

Margarete nahm den Zettel selbst in die Hand. Es war eine Notiz aus dem Jahr 2010, ein Protokoll über den Unfall. Der Name ihres Mannes stand darauf. Der letzte Eintrag war von einem Kollegen unterschrieben, der ihr bis heute aus dem Weg ging. Ihr wurde kalt, obwohl sie den Schal fest um die Schultern hielt.

Sie wollte nicht hier sein. Alles in ihr schrie danach, zurück ins Haus zu gehen, den Herd anzufeuern, den Hund zu füttern und zu vergessen. Doch die Glocke vibrierte noch in ihren Händen. Rauhnacht stupste sie an, als wolle er sie weiterführen.

Ewald legte den Zettel zurück. Er sagte, manche Wahrheiten würden in Akten verstauben, andere würden auf der Straße landen, an der Seite eines Hundes. Er schlug vor, am nächsten Tag ins Pfarrarchiv zu gehen, um nach mehr Spuren zu suchen.

Auf dem Rückweg war es dunkel geworden. Die Laternen entlang der Wisper warfen schwaches Licht, das im Nebel wie Kreise stand. Rauhnacht ging dicht an Margaretes Seite, den roten Schal wie eine Fahne um den Hals.

Zu Hause legte sie die Glocke neben die Blechdose auf den Tisch. Zwei Dinge, die Erich gehört hatten. Zwei Dinge, die zurückgekommen waren, ohne dass sie darum gebeten hatte. Sie fragte sich, ob Rauhnacht nur ein Hund war oder ob er einen Auftrag trug, den kein Mensch verstand.

In der Nacht träumte sie von Erich. Er stand auf der Brücke über die Wisper, den Schal um den Hals. Er hob die Hand, doch sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Dann hörte sie wieder den hellen Ton der Glocke, und sie wachte schweißgebadet auf.

Am Morgen saß Ewald bereits vor dem Haus, eine Thermoskanne auf der Bank. Er wartete, als wäre es selbstverständlich, dass sie zusammen losgingen. Margarete fühlte Widerstand in sich, doch Rauhnacht sprang schwanzwedelnd zu Ewald, als hätte er entschieden.

Sie gingen zum Pfarrarchiv. Der Raum war kühl, der Geruch von Papier und altem Holz hing in der Luft. Ewald sprach mit dem Küster, einem stillen Mann mit tiefen Falten im Gesicht. Nach kurzem Zögern brachte er ihnen eine Kiste. Darin lagen Notizbücher, Quittungen, kleine Gegenstände aus der Fabrikzeit.

Margarete griff nach einem Heft mit dunkelblauem Umschlag. Auf der ersten Seite stand eine Liste mit Namen, auch Erichs. Dahinter Häkchen, als habe jemand Anwesenheiten markiert. Das letzte Häkchen fehlte bei seinem Namen. Ihr Blick blieb daran hängen, als hätte jemand einen Satz mitten im Wort abgebrochen.

Ewald zog einen anderen Gegenstand aus der Kiste. Es war ein kleines, in Zeitungspapier gewickeltes Bündel. Als er es öffnete, kam ein Stück Metall zum Vorschein, das an ein Maschinenteil erinnerte. Scharfkantig, mit einer Einkerbung, die aussah wie ein Bruch. Er legte es wortlos auf den Tisch.

Margarete fühlte, wie der Raum enger wurde. Sie wollte nichts mehr sehen, nichts mehr wissen. Doch in dem Moment schlug Rauhnacht mit der Pfote gegen die Kiste, und ein weiteres Bündel fiel heraus. Diesmal war es ein Stück Stoff, grau und fast zerfallen. Sie erkannte sofort, was es war: ein Hemd von Erich, mit einem Namensschild an der Innenseite.

Sie presste den Stoff an sich. Ihre Tränen tropften auf die graue Baumwolle. Ewald legte eine Hand auf ihre Schulter. Er sagte nichts, und gerade das machte es erträglicher.

Als sie das Archiv verließen, hing der Himmel tief. Der Wind trieb erste Schneeflocken durch die Gassen von Lorch. Rauhnacht ging voran, den Kopf hoch erhoben. Margarete wusste, dass dies erst der Anfang war. Der Hund mit dem roten Schal hatte nicht nur eine Erinnerung zurückgebracht. Er führte sie tiefer in eine Geschichte, die noch nicht zu Ende erzählt war.

Am Abend, als die Dunkelheit das Haus füllte, hörte Margarete draußen ein Geräusch. Schritte im Kies. Langsam, bedacht, wie jemand, der nicht gesehen werden wollte. Sie trat ans Fenster, doch im Nebel war nur eine Gestalt zu erkennen, die sofort wieder verschwand.

Sie zog den Schal enger um sich und spürte ein Zittern in den Händen. Rauhnacht stand vor der Tür, das Fell gesträubt, die Augen wachsam.

Etwas oder jemand folgte ihnen.

Im Klang der nächtlichen Stille hörte Margarete ein leises Läuten der Glocke, obwohl niemand sie berührt hatte.

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