Der Hund mit dem roten Schal | Fünfzehn Jahre Trauer bis ein Hund mit rotem Schal plötzlich vor ihrer Tür stand

🐾 Teil 4: Stimmen im Schnee

Der erste Schnee des Jahres fiel in der Nacht. Am Morgen lag eine dünne Schicht über den Dächern von Lorch, die Straßen glänzten weiß, als hätten sie ihr altes Gesicht für einen Augenblick verborgen. Margarete öffnete die Tür und sah Rauhnacht, wie er seine Pfoten vorsichtig auf den kalten Boden setzte. Er schüttelte sich und blickte zum Waldrand, als sei dort etwas, das nur er sehen konnte.

Der Klang der Glocke aus der Nacht ließ Margarete nicht los. Sie war sicher, dass niemand im Haus gewesen war. Die kleine Glocke lag noch immer neben der Blechdose, unbewegt, rostig, stumm. Doch in der Dunkelheit hatte sie den Ton so klar gehört, als hätte jemand direkt neben ihrem Bett gestanden.

Ewald kam wie am Tag zuvor am frühen Morgen vorbei. Seine Schritte knirschten auf dem gefrorenen Kies. Er brachte Brot vom Bäcker mit und eine Flasche Apfelsaft. Sie frühstückten schweigend am Küchentisch, nur Rauhnachts Schmatzen beim Fressen war zu hören.

Ewald fragte schließlich, ob Margarete sich an den Kollegen erinnere, der den Unfallbericht unterschrieben hatte. Sie nickte. Es war Heinrich Brohm gewesen, ein Mann mit groben Händen und einem Gesicht, das selten lachte. Nach Erichs Tod hatte er kein Wort mehr zu ihr gesagt. Wenn sie ihn auf der Straße traf, wich er aus.

Ewald schlug vor, ihn aufzusuchen. Margarete spürte einen Widerstand in sich. Fünfzehn Jahre hatte sie geschwiegen, und nun sollte sie alte Wunden wieder öffnen. Doch sie sah den roten Schal um Rauhnachts Hals, und etwas in ihr flüsterte, dass Schweigen nicht länger Schutz war, sondern Fessel.

Sie machten sich auf den Weg durch die engen Gassen. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten, Kinder lachten und warfen Schneebälle, doch Margarete nahm kaum etwas wahr. Ihr Herz schlug schneller, je näher sie dem kleinen Haus am Rande des Dorfs kamen.

Heinrich Brohm öffnete nach langem Zögern. Er war älter geworden, die Haare dünn, die Schultern krumm. Sein Blick fiel sofort auf Rauhnacht. Der Hund stand still, die Ohren leicht nach hinten gelegt, bereit, im Notfall zu reagieren.

Margarete sagte, sie wolle mit ihm über den Unfall sprechen. Brohms Gesicht wurde hart. Er murmelte, dass alles in den Akten stehe, dass es nichts mehr zu sagen gebe. Doch seine Augen verrieten etwas anderes, ein Flackern von Schuld oder Furcht.

Ewald trat vor und sagte, man habe im Archiv Dinge gefunden, die Fragen aufwarfen. Brohm zuckte zusammen, als habe ihn jemand geschlagen. Er bat sie ins Haus, doch seine Stimme war kaum hörbar.

Drinnen roch es nach kaltem Rauch und abgestandener Suppe. Die Möbel waren einfach, der Tisch vollgestellt mit Papieren. Brohm setzte sich schwer auf einen Stuhl, legte die Hände vor sich und begann zu erzählen.

Er sprach von dem Tag, an dem Erich gestorben war. Es habe einen Riss in einer Maschine gegeben, ein Stück Metall sei gebrochen und habe eine Kette losgerissen. Erich sei getroffen worden, sofort bewusstlos, ohne Chance. Brohm stockte, dann sagte er, man habe damals entschieden, den Bericht knapp zu halten. Die Fabrik stand kurz vor der Schließung, und niemand wollte einen Skandal, der die letzten Monate Arbeit gefährdete.

Margarete hörte mit offenem Mund zu. Es war nicht der Unfall allein, der sie traf, sondern das Wissen, dass man die Wahrheit verborgen hatte. Erich war nicht einfach gestorben, er war Opfer einer Vertuschung geworden.

Sie fragte mit brüchiger Stimme, warum der Schal verschwunden sei. Brohm sah sie an, als habe er das Wort nie zuvor gehört. Er schüttelte den Kopf und schwor, davon nichts zu wissen. Doch seine Hände zitterten.

Rauhnacht erhob sich, ging zu einer alten Kommode und kratzte an der Schublade. Brohm wollte ihn wegstoßen, doch Margarete öffnete die Schublade selbst. Darin lag ein Bündel Stoff, alt, vergilbt, und zwischen den Laken ein Foto. Es zeigte Erich, lachend, in der Werkshalle, den roten Schal um den Hals.

Margarete starrte das Bild an. Sie erinnerte sich an diesen Tag, es war kurz vor Weihnachten gewesen. Ein Kollege hatte die Kamera dabei, und Erich hatte darauf bestanden, dass auch Margarete aufs Foto solle. Doch sie hatte gelächelt und abgelehnt.

Sie nahm das Foto in die Hand, ihre Finger zitterten. Brohm senkte den Kopf. Er sagte, das Bild habe er behalten, weil er sich schuldig fühlte. Er sei es gewesen, der den Bericht unterschrieben habe, obwohl er wusste, dass die Maschine seit Wochen gefährlich war.

Margarete spürte, wie ihre Beine weich wurden. Ewald stützte sie, führte sie hinaus in die kalte Luft. Der Schnee fiel dichter, die Welt wirkte stiller, fast erdrückend.

Auf dem Rückweg sprach niemand. Rauhnacht lief voran, das Foto im Maul, fest, als wüsste er, dass es etwas Wichtiges war. Margarete folgte ihm mit gesenktem Kopf, während die Flocken auf ihren Schal fielen und langsam schmolzen.

Zu Hause legte sie das Foto neben die Glocke und die Blechdose. Drei Dinge, die von Erich geblieben waren, drei Zeugen einer Vergangenheit, die sich nicht länger verbergen ließ.

In der Nacht konnte Margarete nicht schlafen. Sie hörte draußen wieder Schritte, leise, fast tastend. Diesmal blieb die Gestalt länger vor dem Haus stehen. Sie sah durch den Vorhang, doch der Schnee verschleierte die Sicht. Rauhnacht knurrte tief, stellte sich vor die Tür.

Dann war Stille. Nur der Schnee, der gegen die Scheiben fiel, und das Schlagen ihres Herzens.

Am Morgen fand sie im Garten eine Spur im Schnee. Schuhabdrücke, groß, schwer, führten bis zum Zaun und zurück auf den Weg.

Sie wusste nun, dass nicht nur Erinnerungen zurückgekehrt waren. Jemand lebte noch, der mehr wusste, als er zugab.

In der Spur im Schnee lag ein kleiner, abgebrochener Knopf, und Margarete ahnte, dass er sie tiefer in ein Geheimnis führen würde, das noch lange nicht gelüftet war.

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