Der Hund mit dem roten Schal | Fünfzehn Jahre Trauer bis ein Hund mit rotem Schal plötzlich vor ihrer Tür stand

🐾 Teil 5: Der Knopf im Schnee

Der Knopf lag halb im Schnee verborgen, ein unscheinbares Stück schwarzes Plastik, das leicht hätte übersehen werden können. Doch Margarete spürte sofort, dass er Bedeutung hatte. Sie hob ihn auf, drehte ihn in den Fingern, und das Licht des Morgens brach sich an der abgenutzten Oberfläche.

Ewald betrachtete ihn aufmerksam. Er meinte, der Knopf sehe nach Arbeitskleidung aus, vielleicht von einem Mantel oder einer alten Jacke, wie sie die Männer in der Fabrik getragen hatten. Margarete nickte. Ihr Herz schlug schneller, als hätte dieses kleine Ding eine Brücke zwischen damals und heute geschlagen.

Rauhnacht schnupperte an dem Knopf, schnaubte, als erkenne er einen Geruch, den Margarete nicht wahrnehmen konnte. Der Hund lief zum Zaun, stellte sich auf die Hinterpfoten und blickte hinaus auf den Weg, wo die Spuren verliefen.

Am selben Nachmittag machten sich Margarete und Ewald auf, den Abdrücken im Schnee zu folgen. Sie führten den Hügel hinunter, vorbei am Friedhof, weiter bis zur alten Straße, die nach Lorchhausen führte. Der Schnee war an manchen Stellen verweht, doch die Spur blieb erkennbar.

Am Rand des Waldes fanden sie einen zerfallenen Schuppen, das Dach halb eingestürzt, die Wände grau vom Regen. Rauhnacht lief sofort voraus, stellte sich vor die Tür und bellte. Margarete spürte, wie ihr das Herz in die Kehle rutschte.

Ewald öffnete die Tür vorsichtig. Drinnen roch es nach feuchtem Holz und altem Leder. In einer Ecke lagen Decken, eine rostige Laterne und eine halbvolle Flasche. Jemand hatte hier übernachtet.

Margarete entdeckte auf dem Boden Spuren eines Schuhs, groß, schwer, genau wie im Schnee vor ihrem Haus. Ewald hob eine Jacke auf, deren Ärmel voller Flecken waren. An einer Seite fehlte ein Knopf.

Sie sahen sich schweigend an. Jemand verfolgte sie, und dieser Jemand war kein Fremder auf der Durchreise. Er kannte die Wege, die Orte und vielleicht auch die Vergangenheit.

Margarete fühlte sich von einer Kälte durchdrungen, die nichts mit dem Winter zu tun hatte. Sie wollte zurück nach Hause, weg von diesem Schuppen. Doch bevor sie gehen konnten, hörten sie draußen ein Geräusch.

Rauhnacht knurrte tief und stellte sich vor Margarete. Schritte näherten sich, schwer und langsam, wie jemand, der wusste, dass er gefunden werden würde. Ewald griff nach einem alten Eisenstab, der neben der Tür lehnte.

Die Tür öffnete sich ein Stück, und ein Mann trat ein. Sein Gesicht war wettergegerbt, die Wangen eingefallen, der Blick unruhig. Margarete erkannte ihn sofort. Es war Karl-Heinz Lutter, ein ehemaliger Vorarbeiter aus der Fabrik, der nach der Schließung verschwunden war. Niemand hatte seit Jahren von ihm gehört.

Er blieb stehen, als er Margarete sah. Dann fiel sein Blick auf den roten Schal um Rauhnachts Hals, und seine Augen weiteten sich.

Margarete fragte mit fester Stimme, warum er nachts vor ihrem Haus gestanden habe. Lutter wich ihrem Blick aus. Er murmelte, er habe nur sehen wollen, ob es wahr sei, dass der Schal wieder aufgetaucht sei.

Ewald trat einen Schritt näher und verlangte eine Erklärung. Lutter presste die Lippen zusammen. Schließlich sagte er, dass der Unfall damals mehr gewesen sei als ein einfacher Defekt. Die Maschine sei bewusst weiterbetrieben worden, obwohl jeder gewusst habe, dass sie gefährlich war. Erich habe versucht, die Leitung zu warnen, doch niemand habe auf ihn gehört.

Margaretes Hände zitterten. Sie fragte, warum niemand die Wahrheit gesagt habe. Lutter antwortete, dass sie alle Angst gehabt hätten. Angst vor dem Verlust der Arbeit, Angst vor den Folgen. Er habe geschwiegen und sich seitdem mit der Schuld gequält.

Er setzte sich schwer auf die Bank im Schuppen. Seine Schultern sanken herab, als sei er müde von all den Jahren des Schweigens. Er sagte, der Schal sei nach dem Unfall in seiner Spind gelandet. Niemand habe sich darum gekümmert, er habe ihn behalten und schließlich verloren, als er selbst auf der Straße landete. Wie er am Ende in den Keller des Pfarrhauses gelangte, wusste er nicht.

Margarete hörte die Worte, doch in ihrem Inneren rauschte es. All die Jahre hatte sie geglaubt, der Schal sei spurlos verschwunden, und nun erfuhr sie, dass er die ganze Zeit in der Nähe gewesen war, getragen von Schuld und Scham.

Rauhnacht legte den Kopf auf ihre Hand, als wolle er sie erden. Sie spürte seine Wärme, während in ihr die Erinnerung an Erich brannte.

Ewald fragte Lutter, warum er sich jetzt zeigte. Lutter schwieg lange, dann sagte er, er habe die Frau sehen müssen, die den Schal gestrickt hatte. Er habe gewusst, dass er ihr eines Tages begegnen würde, weil man der Wahrheit nicht ewig davonlaufen könne.

Der Wind drang durch die Ritzen des Schuppens. Schneeflocken wirbelten herein und setzten sich auf den Boden. Lutter stand auf, seine Bewegungen schwerfällig. Er sagte, er könne nicht mehr zurück. Aber er wolle, dass Margarete wisse: Erich sei ein ehrlicher Mann gewesen, einer der versucht habe, alle zu schützen.

Dann verließ er den Schuppen und verschwand im Schneetreiben.

Margarete blieb zurück, unfähig, sich zu bewegen. Sie sah auf den Schal, dann auf das Foto, das sie bei sich trug. Alles schien plötzlich klarer und zugleich unerträglicher.

Ewald legte den Arm um ihre Schulter. Er sagte, dass es nun an der Zeit sei, die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen, nicht nur für sie, sondern auch für Erich.

Rauhnacht bellte leise, als hätte er verstanden.

Als sie später nach Hause gingen, war der Schnee dichter geworden. Die Welt lag still, doch in Margaretes Herz begann es zu toben.

In dieser Nacht träumte sie von Erichs Stimme. Sie hörte ihn rufen, doch sie konnte die Worte nicht verstehen. Nur der Klang war da, warm und nah. Als sie erwachte, war Rauhnacht vor ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit, als lausche er auf etwas, das nur er hören konnte.

Im schwachen Licht des Morgens fand Margarete vor ihrer Tür ein Stück Papier, auf dem nur ein einziger Satz stand: „Es war kein Unfall.“

Scroll to Top