Der Hund mit dem roten Schal | Fünfzehn Jahre Trauer bis ein Hund mit rotem Schal plötzlich vor ihrer Tür stand

🐾 Teil 6: Das Papier mit den Worten

Der Zettel lag auf der Türschwelle, halb vom Schnee überdeckt. Es war kein Unfall. Nur vier Worte, doch sie schnitten tiefer als jedes Messer. Margarete hob das Papier auf, ihre Finger zitterten, obwohl sie längst an Frost gewohnt war.

Ewald kam wenige Minuten später vorbei. Sie zeigte ihm den Zettel, ohne ein Wort zu sagen. Sein Blick verhärtete sich, als er die Worte las. „Jemand will, dass du weitergehst. Aber vielleicht auch, dass du Angst bekommst.“

Rauhnacht stand mit gesträubtem Fell an der Tür, als ahnte er, dass unsichtbare Augen sie beobachteten.

Margarete setzte sich an den Küchentisch. Vor ihr lagen nun die drei Dinge: die Blechdose mit Erichs Initialen, die rostige Fahrradglocke und der Zettel. Jedes Stück war ein Teil eines Puzzles, das sie mehr verwirrte, je länger sie hinsah.

Ewald sprach leise, fast flüsternd. „Es gibt einen Ort, den wir noch nicht durchsucht haben. Den Keller der Fabrik. Man sagte mir einmal, dass dort alte Unterlagen liegen. Vielleicht auch Erichs Berichte.“

Margarete fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie hatte das Gelände jahrelang gemieden, als sei es ein Grab, das sie nicht stören durfte. Aber der Zettel ließ ihr keine Wahl.

Am Nachmittag machten sie sich auf den Weg. Rauhnacht lief voraus, der rote Schal wehte im Wind wie ein stilles Signal. Der Himmel war grau, Schnee lag wie ein Tuch über den Dächern.

Der Eingang zum Keller befand sich hinter einer halb eingestürzten Mauer. Ewald schob die Steine zur Seite, gerade breit genug, dass sie hindurch konnten. Der Geruch von Moder und rostigem Eisen schlug ihnen entgegen.

Die Stufen führten in die Dunkelheit. Margarete zögerte, doch Rauhnacht stieg ohne Furcht hinunter, die Pfoten sicher auf dem kalten Stein. Sein Bellen hallte leise zurück, als wolle er ihnen Mut machen.

Unten standen verrostete Regale, vollgestopft mit Ordnern und Kisten. Staub hing in der Luft, als Ewald die Taschenlampe anschaltete.

Margarete strich mit der Hand über die Aktenrücken. Viele waren unlesbar geworden, doch einige trugen noch deutliche Aufschriften: Maschinenprüfung 2009, Sicherheitsberichte 2010. Ihr Atem stockte.

Sie zog einen Ordner hervor, die Hände schwer wie Stein. Darin lagen Blätter, manche leer, andere mit schwarzer Tinte durchgestrichen. Doch dazwischen fand sie eine Seite in vertrauter Handschrift. Kräftige, klare Buchstaben: Erich Völkel.

„Ewald… sieh mal“, flüsterte sie.

Der Bericht warnte vor minderwertigen Ersatzteilen. Es stand da, schwarz auf weiß, dass eine Katastrophe unvermeidlich sei, wenn die Maschinen weiterliefen. Margaretes Augen füllten sich mit Tränen. Dies war Erichs letzte Spur, der Beweis seiner Ehrlichkeit und seiner Sorge um die anderen Arbeiter.

Doch noch bevor sie den Bericht zu Ende lesen konnte, hörten sie ein Geräusch. Schritte, schwer und gleichmäßig, irgendwo im Gang. Rauhnacht stellte die Ohren auf, knurrte tief.

Das Licht der Taschenlampe zitterte. Ewald stellte sich schützend vor Margarete. „Wir sind nicht allein“, sagte er leise.

Die Schritte kamen näher, hallten durch den Keller. Ein Schatten glitt über die Wand. Margarete klammerte sich an den Ordner, als hielte sie Erichs Hand.

Die Tür am Ende des Raums quietschte. Ein Mann trat ein, groß, schwer gebaut. Für einen Moment glaubte sie, das Gesicht nicht zu erkennen. Doch dann sah sie ihn klar im Licht der Lampe.

Heinrich Brohm.

Der Mann, der den Bericht unterschrieben hatte. Der Mann, der seit Jahren schwieg.

Margarete fühlte, wie ihr Atem stockte. Alles in ihr schrie nach Flucht, doch Rauhnacht stellte sich vor sie, das Knurren tief, als wüsste er, dass jetzt der entscheidende Augenblick gekommen war.

Brohms Blick fiel auf den Ordner in Margaretes Händen, und sein Gesicht verhärtete sich, als hätte er genau auf diesen Moment gewartet.

Scroll to Top