🐾 Teil 7: Die Nacht am Fluss
Der Wind trieb Wolken über den Himmel, und der Mond schimmerte wie ein fahles Auge über dem Tal. Margarete ging mit Rauhnacht am Ufer der Wisper entlang. Sie konnte nicht schlafen. Zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf, seit der Zettel vor ihrer Tür gelegen hatte. Es war kein Unfall. Diese Worte hatten sich eingebrannt wie Feuer.
Ewald hatte sie am Nachmittag besucht. Er war entschlossener geworden, seit sie Lutter im Schuppen getroffen hatten. Er wollte die Gemeinde und die verbliebenen Fabrikarbeiter zusammenrufen. Doch Margarete war unsicher. Was, wenn niemand ihr glaubte? Was, wenn die Wahrheit nur weiteres Schweigen brachte?
Rauhnacht lief voran, die Nase tief im Gras, die Muskeln angespannt. Plötzlich blieb er stehen und knurrte. Margarete folgte seinem Blick. Jenseits der Brücke bewegte sich eine Gestalt. Ein Mann, groß, breitschultrig, die Schritte schwer. Sie erkannte ihn sofort, auch wenn die Jahre ihn verändert hatten. Heinrich Brohm.
Er blieb stehen, als er sie sah. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen. Lange Zeit sagte keiner ein Wort. Dann trat er näher. Sein Gesicht war blass, seine Augen tief eingesunken.
„Du solltest nicht hier sein“, sagte er leise.
Margarete hob das Kinn. „Du hast damals unterschrieben. Du weißt, dass Erich nicht hätte sterben müssen.“
Brohm presste die Lippen zusammen. Der Wind zerrte an seinem Mantel. Rauhnacht stellte sich schützend vor Margarete, die Muskeln gespannt, der rote Schal flatterte im Wind.
„Es war nicht nur die Maschine“, murmelte Brohm schließlich. „Es war ein Fehler, ja, aber es war mehr. Erich hat etwas herausgefunden, das niemand wissen sollte. Deshalb ist er gestorben.“
Margarete fühlte, wie ihr die Beine den Halt entzogen. Sie griff nach dem Geländer der Brücke. „Was meinst du?“ fragte sie mit heiserer Stimme.
Brohm sah sie an, als ringe er mit sich selbst. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann es dir nicht sagen. Aber du musst vorsichtig sein. Es gibt Leute, die nicht wollen, dass die Vergangenheit ausgegraben wird.“
Er wandte sich ab, doch Margarete hielt ihn am Arm fest. „Du schuldest mir die Wahrheit.“
Brohm riss sich los. Sein Blick war voller Schmerz. „Ich habe zu viel geschwiegen. Vielleicht ist es schon zu spät.“ Dann verschwand er im Schatten der Bäume.
Margarete stand lange da, unfähig, sich zu bewegen. Rauhnacht drängte sich an sie, warm und still, als wolle er ihr Halt geben. Schließlich drehte sie um und ging nach Hause, die Worte Brohms wie Steine in ihrer Brust.
Am nächsten Morgen suchte sie Ewald auf. Er hörte ihr zu, nickte ernst und sagte, dass sie tiefer graben müssten. Er vermutete, dass in den Kellern der Fabrik noch Unterlagen lagen, die niemand je gesichtet hatte. Dokumente, die vielleicht erklärten, was Erich wirklich gewusst hatte.
Margarete zögerte, doch sie wusste, dass er recht hatte. Gemeinsam mit Ewald und Rauhnacht machten sie sich am späten Nachmittag auf den Weg. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, der Himmel färbte sich langsam dunkel.
Das Fabrikgelände lag verlassen, wie eine Wunde im Herzen des Dorfs. Durch zerbrochene Fenster fiel schwaches Licht, die Mauern waren von Moos überzogen. Rauhnacht führte sie zu einem Nebeneingang, dessen Tür halb aus den Angeln hing.
Innen roch es nach feuchtem Beton und Rost. Ihre Schritte hallten in den leeren Gängen. Ewald leuchtete mit einer Taschenlampe, während Margarete den Schal enger um sich zog. Sie fühlte sich, als betrete sie ein Grab.
Sie stiegen eine Treppe hinab, die in einen Keller führte. Die Luft wurde kühler, feuchter. An den Wänden hingen alte Plakate mit Sicherheitshinweisen, die längst niemand mehr befolgte.
Rauhnacht lief voran. Er schnupperte, bellte einmal kurz und blieb vor einer schweren Metalltür stehen. Ewald drückte dagegen, sie war nur angelehnt. Dahinter lag ein Raum voller verstaubter Regale, auf denen Ordner und Kisten standen.
Margarete trat ein. Ihre Finger strichen über die Aktenrücken. Manche waren zerfallen, andere fest verschlossen. Sie zog einen Ordner hervor. Darin lagen Berichte über Maschinenprüfungen. Viele Seiten waren unvollständig, manche mit schwarzer Tinte überstrichen.
Ewald fand in einer Kiste mehrere Umschläge, beschriftet mit Zahlen. Einer davon trug das Datum des Tages, an dem Erich starb. Er öffnete ihn vorsichtig. Darin lag ein handschriftlicher Bericht, der von Erich unterschrieben war.
Margarete griff danach. Sie erkannte sofort seine Handschrift, die festen, klaren Buchstaben. In dem Bericht stand, dass eine Maschine manipuliert worden war. Jemand hatte Teile ausgetauscht, minderwertiges Material eingesetzt, um Kosten zu sparen. Erich hatte gewarnt, dass dies zu einem tödlichen Unfall führen könnte.
Ihre Hände zitterten. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Erich hatte versucht, Leben zu retten, und dafür sein eigenes verloren.
Plötzlich hörten sie ein Geräusch im Gang. Schritte, schwer und langsam. Ewald schaltete die Taschenlampe aus. Sie hielten den Atem an.
Rauhnacht knurrte leise, stellte sich vor Margarete.
Die Schritte kamen näher, hallten auf dem Beton. Dann blieb es still. Ein Schatten bewegte sich vor der Tür, groß und unbeweglich.
Margarete klammerte sich an den Schal. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wer immer draußen stand, wusste, dass sie hier waren.
Die Metalltür schwang langsam zu, und Margarete erkannte im matten Restlicht den Umriss eines Mannes, der sie bereits erwartet hatte.