Der Hund mit dem roten Schal | Fünfzehn Jahre Trauer bis ein Hund mit rotem Schal plötzlich vor ihrer Tür stand

🐾 Teil 8: Der Schatten im Keller

Die Tür schwang schwer in das Halbdunkel hinein, und im matten Licht der Taschenlampe sah Margarete die Silhouette eines Mannes. Groß, breit, das Gesicht von der Dunkelheit verschluckt. Einen Moment lang wagte sie nicht zu atmen. Rauhnacht stellte sich vor sie, das Fell gesträubt, der Kopf gesenkt, bereit, im Notfall zuzupacken.

Der Mann trat einen Schritt vor. Sein Gesicht wurde sichtbar. Es war Heinrich Brohm. Margarete fühlte, wie sich etwas in ihrem Inneren zusammenzog. Der Mann, der all die Jahre geschwiegen hatte, stand nun vor ihr, hier, an dem Ort, an dem Erichs Wahrheit begraben worden war.

Brohm hob die Hände, als wolle er zeigen, dass er keine Gefahr war. Seine Stimme klang müde, fast gebrochen. „Ich wusste, dass ihr hierherkommen würdet.“

Ewald trat zwischen ihn und Margarete. „Warum folgst du uns?“

Brohm senkte den Blick. „Weil ich selbst nicht mehr schweigen kann. Ich habe damals unterschrieben, ich habe gelogen. Aber ich habe nicht verstanden, wie groß das alles war.“

Margarete spürte, wie die Luft dünner wurde. Sie hielt den Ordner mit Erichs Bericht noch in der Hand, als sei er ein Schild. „Sag mir endlich die Wahrheit, Heinrich. Warum ist mein Mann gestorben?“

Brohm trat näher, seine Schultern schwer, die Worte schwerer. Er erzählte, dass die Leitung der Fabrik über Jahre minderwertige Ersatzteile gekauft hatte. Billiges Material, das schneller brach, um Kosten zu sparen. Jeder wusste es, doch niemand wagte, es laut auszusprechen. Erich war der Einzige, der die Gefahr klar benannte. Er schrieb den Bericht, den Margarete nun in Händen hielt. Am Morgen seines Todes wollte er ihn an die Gewerkschaft weitergeben.

Die Stille nach diesen Worten war erdrückend. Ewald ballte die Fäuste. Margarete hörte nur ihr Herz, das wie ein Hammer schlug.

Brohm fuhr fort. „Der Unfall war kein Zufall. Jemand hat dafür gesorgt, dass die Maschine an diesem Tag lief, obwohl sie längst hätte stillgelegt werden müssen.“

Margarete wich einen Schritt zurück. „Du willst sagen, jemand hat Erich absichtlich in Gefahr gebracht?“

Brohm nickte. Sein Blick war voller Scham. „Es war Lutter, der Vorarbeiter. Er hat den Schalter betätigt, obwohl er wusste, dass die Maschine defekt war. Er hat Druck von oben bekommen. Von wem, das weiß ich nicht. Aber er tat es.“

Margarete erinnerte sich an die Begegnung im Schuppen. Lutter hatte gestanden, Schuld zu tragen. Aber er hatte nicht alles gesagt.

Sie spürte Tränen in den Augen. All die Jahre hatte sie geglaubt, ein unglücklicher Zufall habe ihr das Liebste genommen. Jetzt begriff sie, dass Erichs Mut und Ehrlichkeit ihn das Leben gekostet hatten.

Ewald legte eine Hand auf ihre Schulter. „Wir müssen das öffentlich machen. Diese Papiere sind Beweise.“

Brohm nickte langsam. „Aber ihr müsst vorsichtig sein. Manche werden nicht wollen, dass das ans Licht kommt.“

Ein Geräusch ließ sie alle aufschrecken. Schritte im Gang. Diesmal nicht einer, sondern mehrere. Rauhnacht knurrte, sein Körper angespannt wie ein Bogen.

Im nächsten Moment traten zwei Männer in den Kellerraum. Fremde Gesichter, grobe Gestalten, dunkle Mäntel. Ihre Augen wanderten sofort zu den Akten in Margaretes Hand.

Ewald stellte sich schützend vor sie. „Was wollen Sie hier?“

Einer der Männer lachte leise. „Nur das, was uns gehört. Geben Sie die Unterlagen, und niemand wird verletzt.“

Margarete hielt den Ordner fester. Sie spürte Rauhnachts Wärme an ihrer Seite, den roten Schal, der im Licht glühte wie ein stilles Feuer.

Brohm trat einen Schritt zurück, die Angst deutlich in seinem Gesicht. „Sie dürfen das nicht tun“, flüsterte er.

Der größere der beiden Männer machte einen Schritt nach vorne. „Der Bericht verschwindet hier und heute. Genauso wie der Mann, der ihn geschrieben hat.“

Margarete hörte die Worte wie durch Wasser. Ihr Atem stockte. Doch bevor sie reagieren konnte, sprang Rauhnacht nach vorn. Sein Bellen hallte durch den Keller wie Donner, seine Zähne blitzten im Licht. Der Mann wich erschrocken zurück, stolperte gegen ein Regal.

Chaos brach aus. Ewald riss Margarete am Arm und zog sie zur Tür. Brohm taumelte hinterher, während die Männer versuchten, sich vom Hund zu befreien. Akten fielen aus den Regalen, flatterten wie Vögel durch die Luft.

Sie rannten den Gang entlang, die Taschenlampe schwankte in Ewalds Hand. Hinter ihnen hallten Schritte, Rufe, das Bellen von Rauhnacht. Margarete spürte, wie der Ordner schwer in ihren Händen wurde, aber sie ließ ihn nicht los.

Die Treppe hinauf, hinaus in die kalte Nacht. Schnee peitschte ihnen ins Gesicht, der Wind schnitt wie Messer. Doch das Licht der Laternen am Fluss war nah.

Rauhnacht stürmte als Erster ins Freie. Sein Fell war zerzaust, doch seine Augen glühten. Er stellte sich neben Margarete, atmete schwer, aber stolz.

Ewald blickte zurück in den Keller. Niemand folgte ihnen. Noch nicht.

Brohm lehnte sich gegen die Mauer, die Hand an der Brust. Sein Gesicht war aschfahl. „Ihr versteht nicht“, keuchte er. „Das geht tiefer, als ihr denkt. Es war nicht nur die Fabrikleitung. Es gibt Namen, die ihr nicht aussprechen dürft.“

Margarete wollte antworten, doch in diesem Moment hörte sie wieder ein Geräusch. Ein Auto, das in der Ferne startete, dann Scheinwerfer, die den Schnee durchschnitten. Jemand wusste genau, wo sie waren.

Sie klammerte sich an den Schal, spürte die Wärme der Wolle und die Kraft der Erinnerung. In ihr wuchs eine Entschlossenheit, die sie selbst überraschte. Sie würde nicht länger schweigen.

Rauhnacht stand neben ihr, ruhig, die Brust gehoben, als wüsste er, dass der wahre Kampf erst begann.

Die Scheinwerfer hielten direkt vor ihnen, und eine tiefe Stimme rief in die Nacht: „Geben Sie den Ordner her oder es wird Blut fließen.“

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