🐾 Teil 9: Am Rand der Wahrheit
Der Schnee wirbelte im Licht der Scheinwerfer wie ein Schleier. Margarete stand wie erstarrt, den Ordner fest an die Brust gedrückt. Neben ihr spannte sich Rauhnacht an, das Fell sträubte sich, sein Knurren war tief und drohend. Ewald trat einen Schritt vor, die Taschenlampe erhoben, als könne ihr schwaches Licht etwas gegen die grelle Helligkeit der Autoscheinwerfer ausrichten.
Die Stimme erklang erneut, tiefer, lauter. „Den Ordner! Sofort!“ Zwei Männer stiegen aus dem Wagen. Sie trugen schwere Mäntel, die Gesichter im Schatten. Ihre Bewegungen waren entschlossen, ohne Hast, als hätten sie die Situation längst unter Kontrolle.
Margarete fühlte, wie ihre Beine nachgaben. Doch dann spürte sie die raue Wolle des roten Schals zwischen ihren Fingern, und eine Kraft, die sie längst verloren geglaubt hatte, flammte auf. Sie schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie mit fester Stimme. „Nicht diesen Ordner.“
Die Männer gingen weiter nach vorn. Ewald stellte sich vor sie. „Gehen Sie zurück“, rief er. Doch das Echo seiner Worte verlor sich im Wind.
Plötzlich stürmte Rauhnacht nach vorn. Sein Bellen durchschnitt die Nacht, wild und unerschrocken. Einer der Männer wich erschrocken zurück, stolperte und rutschte im Schnee aus. Der andere hob einen Arm, als wolle er den Hund abwehren, doch Rauhnacht sprang höher, schnappte nach dem Mantelärmel und riss ihn zu Boden.
Ewald nutzte den Moment, zog Margarete am Arm, und sie rannten den Weg entlang, den Fluss hinunter. Brohm keuchte schwer, folgte ihnen mühsam. Hinter ihnen hallten Rufe, Schritte, das Aufheulen des Motors.
Der Weg war glatt, Eis schimmerte unter dem Schnee. Mehrmals stolperte Margarete, doch Ewald fing sie auf. Rauhnacht lief neben ihnen, der rote Schal flatterte wie eine Fahne.
Nach einigen hundert Metern erreichten sie eine Brücke, die über den Fluss führte. Darunter rauschte das Wasser, dunkel und unruhig. Der Wagen folgte ihnen, die Scheinwerfer warfen lange Schatten auf den Schnee.
Margarete wusste, dass sie den Ordner nicht verlieren durfte. Darin lag Erichs Handschrift, sein letzter Versuch, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Alles, was er gewesen war, lebte in diesen Seiten.
Sie blieben in der Mitte der Brücke stehen. Ewald hob die Taschenlampe wie eine Waffe. Brohm sank keuchend an das Geländer. Die Männer stiegen erneut aus dem Wagen.
„Geben Sie uns den Ordner“, rief einer von ihnen. „Sie haben keine Chance.“
Margarete hob den Ordner hoch. „Dies hier gehört nicht Ihnen. Es gehört der Wahrheit.“
Ein Windstoß trieb Schneeflocken zwischen ihnen hindurch. Die Männer zögerten. Dann machte einer einen Schritt nach vorn.
Rauhnacht stellte sich breitbeinig vor Margarete, das Knurren tief, die Augen hell im Scheinwerferlicht. Sein Körper war eine Mauer, und Margarete wusste, dass er bis zum Letzten kämpfen würde.
Plötzlich ertönte eine andere Stimme. „Hören Sie auf!“ Alle drehten sich um. Aus der Dunkelheit trat eine Gestalt hervor. Es war Karl-Heinz Lutter. Sein Gesicht war von Kälte gezeichnet, seine Augen tief und müde.
„Lasst sie in Ruhe“, sagte er. „Ich bin derjenige, den ihr sucht.“
Die Männer blieben stehen. Einer knurrte: „Du solltest schweigen.“
Lutter trat näher. „Ich habe geschwiegen. Fünfzehn Jahre. Aber nicht mehr. Ich war es, der den Schalter umgelegt hat. Doch ich tat es nicht aus eigenem Willen. Ihr habt mich gezwungen.“ Seine Stimme bebte, doch er stand fest.
Margarete spürte, wie ihr Herz raste. Sie sah in sein Gesicht, voller Schuld und Reue. Lutter drehte sich zu ihr. „Erich war ein ehrlicher Mann. Ich habe ihn verraten. Aber ihr dürft nicht dasselbe tun. Ihr müsst reden. Erzählt alles.“
Die Männer machten einen weiteren Schritt. Doch da sprang Rauhnacht erneut nach vorn. Sein Bellen hallte über den Fluss, wild, furchtlos. In dem Chaos nutzte Lutter den Moment, rannte zum Wagen und riss die Fahrertür auf. Mit einem schnellen Griff zog er die Schlüssel aus dem Zündschloss und warf sie in den Fluss. Ein metallisches Klirren, dann Stille.
Die Männer schrien auf, wollten hinterher, doch es war zu spät. Der Schlüssel war verschwunden in der Dunkelheit des Wassers.
Ewald packte Margarete, und sie flohen den Weg zurück zum Dorf. Brohm folgte taumelnd, Lutter rannte einige Schritte hinterher, bis er vor Erschöpfung stehen blieb.
Er rief ihnen nach: „Bringt es zu Ende. Lasst nicht zu, dass er umsonst gestorben ist!“ Dann verschwand seine Stimme im Wind.
Sie erreichten Margaretes Haus erst in der Morgendämmerung. Die Welt war still, der Schnee glitzerte, als sei nichts geschehen. Doch in Margaretes Händen lag der Ordner, schwer wie ein Herz voller Erinnerungen.
Sie setzte sich an den Tisch, legte den Ordner neben die Glocke und die Blechdose. Drei Dinge, die von Erich geblieben waren, drei Schlüssel zu einer Wahrheit, die nun nicht länger verborgen bleiben durfte.
Ewald stellte eine Tasse Tee vor sie hin. „Morgen gehen wir zur Presse“, sagte er. „Es darf kein Geheimnis mehr sein.“
Margarete nickte langsam. Rauhnacht legte den Kopf auf ihren Schoß, der rote Schal schimmerte im Licht des neuen Tages.
Doch in der Stille hörte sie ein fernes Geräusch, kaum mehr als ein Flüstern. Schritte auf dem Kies, leise, beharrlich. Sie stand auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite.
Eine Gestalt stand am Gartenzaun, unbeweglich, den Blick auf das Haus gerichtet.
Im ersten Licht des Morgens erkannte Margarete das Gesicht und es war jemand, den sie nie wieder zu sehen geglaubt hatte.