🐾 Teil 10: Das letzte Geheimnis
Im ersten Licht des Morgens sah Margarete das Gesicht am Gartenzaun klarer. Ihr Herz stockte. Es war nicht Lutter, nicht Brohm und auch keiner der Männer aus dem Auto. Es war Johannes Krämer, der frühere Betriebsleiter der Papierfabrik.
Ein Mann, von dem man im Dorf seit Jahren kaum noch sprach, weil er nach der Schließung einfach verschwunden war. Viele hatten geglaubt, er sei ins Ausland gegangen. Nun stand er hier, älter, schmaler, doch mit demselben festen Blick wie damals, als er über die Schicksale von Dutzenden Arbeitern entschieden hatte.
Margarete öffnete die Tür. Der Frost biss ihr ins Gesicht, Rauhnacht drängte sich schützend neben sie. Krämer hob die Hände, als wolle er zeigen, dass er unbewaffnet war. „Ich will reden“, sagte er mit heiserer Stimme.
Ewald trat aus dem Haus, die Stirn in Falten. „Nach all den Jahren kommst du zurück? Warum jetzt?“
Krämer senkte den Blick, schien einen Moment nach Worten zu suchen. „Weil ich weiß, dass die Wahrheit kurz davor ist, ans Licht zu kommen. Und weil ich nicht länger mit der Schuld leben kann.“
Margarete spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Sie trat näher, ihre Stimme bebte. „Mein Mann hat die Gefahr erkannt. Er wollte euch warnen. Und ihr habt ihn schweigend in den Tod geschickt.“
Krämer schloss die Augen. „Er war der einzige, der den Mut hatte, aufzustehen. Ich habe damals Befehle von oben befolgt. Billiges Material, gefährliche Maschinen. Wenn ich widersprochen hätte, wäre nicht nur ich gefallen, sondern viele andere mit mir. Ich habe geschwiegen, und dieser Fehler verfolgt mich seit fünfzehn Jahren.“
Die Worte hingen schwer in der kalten Luft. Margarete atmete tief durch. „Und jetzt? Glaubst du, ein Geständnis macht alles ungeschehen?“
Krämer schüttelte den Kopf. „Nein. Aber es kann verhindern, dass alles wieder unter den Teppich gekehrt wird. Ich habe Unterlagen. Sie sind in einem alten Versteck auf dem Fabrikgelände. Beweise dafür, dass von höchster Stelle Druck ausgeübt wurde. Ich kann euch dorthin führen.“
Ewald war misstrauisch, doch Margarete nickte. Es war ihre letzte Chance, Erichs Stimme wieder hörbar zu machen.
Am Nachmittag gingen sie gemeinsam zurück zum Gelände. Rauhnacht lief an der Spitze, aufmerksam, den Kopf erhoben. Der Himmel war grau, der Wind kalt, die Mauern der Fabrik ragten wie gebrochene Zähne in den Himmel.
Krämer führte sie in einen Seitentrakt, den niemand mehr betrat. Hinter einem alten Spind schob er eine Metallplatte zur Seite. Dahinter kam ein Hohlraum zum Vorschein, in dem mehrere Schachteln lagen. Staub bedeckte sie, Spinnweben zogen sich über die Ecken.
Margarete öffnete eine der Schachteln. Darin lagen Briefe, Verträge, unterschriebene Dokumente. Rechnungen über den Kauf von minderwertigem Material, Anweisungen, Sicherheitsprüfungen zu fälschen. Jeder Zettel war ein Schlag in die Magengrube.
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie sah Krämer an. „Warum hast du das all die Jahre versteckt?“
Er senkte den Kopf. „Weil ich ein Feigling war.“
Ewald nahm einige Papiere heraus, steckte sie in seine Tasche. „Damit ist es vorbei. Morgen gehen wir zur Zeitung. Und diesmal wird niemand mehr schweigen.“
Doch plötzlich hörten sie wieder Schritte. Schwer, nahe. Zwei der Männer aus der Nacht zuvor traten durch die Halle. Ihre Gesichter waren hart, ihre Augen kalt. „Wir haben euch gewarnt“, sagte einer von ihnen.
Rauhnacht stellte sich sofort vor die Gruppe, das Knurren tief, die Muskeln angespannt. Die Männer gingen weiter, die Hände in den Manteltaschen. Margarete klammerte sich an den Ordner und den Schal.
Krämer trat vor. „Lasst sie gehen. Ich bin derjenige, den ihr wollt.“
Die Männer lachten höhnisch. „Du bist schon lange nichts mehr wert, Krämer. Aber die Unterlagen sind gefährlich. Gib sie her.“
In diesem Moment geschah alles gleichzeitig. Einer der Männer griff nach den Schachteln, doch Rauhnacht sprang vor, packte ihn am Arm und riss ihn zu Boden. Der zweite zog etwas Metallisches aus der Tasche, doch Ewald schlug mit einem Holzstück dagegen, und es fiel klirrend zu Boden.
Margarete rannte zur Tür, den Ordner an die Brust gedrückt. Sie hörte Rufe, das Knurren des Hundes, den Lärm von kämpfenden Männern. Doch dann war sie draußen, die kalte Luft schnitt in ihre Lungen.
Wenige Augenblicke später kam Ewald hinterher, den Atem schwer. Rauhnacht folgte ihm, der rote Schal nass vom Schnee, doch in seinen Augen brannte eine Wildheit, die Margarete noch nie gesehen hatte. Krämer hinkte hinterher, Blut an der Schläfe, aber lebendig.
Sie verließen das Gelände und kehrten schweigend ins Dorf zurück. Erst im warmen Licht der Küche brach Margarete zusammen. Sie legte den Ordner, die Schachteln, die Glocke und die Blechdose nebeneinander. Vier Beweise, vier Stimmen aus der Vergangenheit.
Am nächsten Tag brachte Ewald die Unterlagen zur Zeitung in Wiesbaden. Journalisten hörten ihnen aufmerksam zu, stellten Fragen, schrieben alles nieder. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren spürte Margarete, dass Erichs Opfer nicht vergessen bleiben würde.
Eine Woche später erschien der Bericht. Groß auf der Titelseite: „Der vertuschte Tod in der Lorcher Papierfabrik“. Namen wurden genannt, Verantwortliche entlarvt. Für Margarete war es schmerzhaft, doch auch befreiend.
Im Dorf sprachen die Menschen wieder über Erich. Manche senkten beschämt die Köpfe, andere klopften Margarete auf die Schulter und sagten, sie hätten immer gewusst, dass er ein guter Mann war.
Eines Abends saß Margarete am Fenster. Draußen lag Schnee, der Mond warf sein Licht über den Garten. Rauhnacht lag zu ihren Füßen, den Kopf auf den Pfoten, der rote Schal noch immer um seinen Hals.
Sie legte die Hand auf sein Fell. „Du hast mir mehr zurückgebracht, als ich je zu hoffen gewagt habe.“ Der Hund blickte auf, seine Augen klar und ruhig.
Margarete schloss die Augen und hörte das Läuten der kleinen Glocke. Kein halluziniertes Echo, sondern ein Klang aus der Erinnerung. Sie sah Erich vor sich, mit dem Schal um den Hals, lächelnd, als wolle er sagen, dass alles gut sei.
Sie weinte, doch diesmal waren es Tränen der Ruhe.
In den Tagen danach sprach man im Dorf oft vom Hund mit dem roten Schal. Manche sagten, er sei nur zufällig gekommen, andere glaubten, er habe einen Auftrag gehabt. Für Margarete war er mehr als ein Hund. Er war ein Bote, ein Wächter, ein Freund.
Der Winter ging, der Frühling kam. Rauhnacht blieb bei ihr, wurde Teil ihres Lebens. Die Narben der Vergangenheit würden nie ganz verschwinden, doch die Wahrheit war ausgesprochen. Und das machte den Schmerz leichter.
Am Grab von Erich stellte sie eines Tages den Ordner nieder, den Schal um die Schultern gelegt. Rauhnacht saß neben ihr, still, die Augen auf den Stein gerichtet.
„Es ist vollbracht“, flüsterte sie. „Deine Stimme ist wieder da.“
Der Wind fuhr durch die Bäume, als sei es eine Antwort.
Margarete legte ihre Hand auf Rauhnachts Kopf, und in diesem Augenblick wusste sie, dass die Liebe, die Erinnerung und die Wahrheit über Generationen hinweg bestehen würden.