Der Hund und das alte Bahngleis | Die weiße Linie zwischen zwei Leben: 16:17, ein Hund, und eine Lampe im Regen brennt

Manchmal wartet die Vergangenheit auf dich, still wie ein Hund am Rand der Welt.

Erst wenn du hin siehst, hörst du die Uhr wieder ticken.

Und manchmal ist Reue nur ein anderer Name für Erinnerung.

Was du glaubtest verloren, sitzt vielleicht schon seit Jahren und hält Wache.

Er kam zu spät, dachte er, doch der Hund kam pünktlich.

🐾 Teil 1: Die Geisterstunde 16:17

Saalfeld an der Saale, Spätsommer 2025.
Der Nachmittag roch nach warmem Harz und kühlem Rost.
Eberhart Linden ging langsam, als würde jeder Schritt einen Ton in der Luft setzen.

Er war siebzig und ein wenig mehr.
Seine Beine wussten noch, wie lang ein Bahndamm sein kann.
Sein Herz wusste, wie weit Stille trägt.

Links lag der Fluss, flach und grün.
Rechts führte ein stillgelegtes Gleis in die Weite, halb im Gras, halb im Geröll.
Das Eisen schlief unruhig unter den Halmen.

Eberhart trug seine alte Kappe.
In der Jackentasche steckte die Taschenuhr, silbern und verbeult.
Sie hatte ihm früher den Takt gegeben, jetzt gab sie ihm Fragen.

Er blieb stehen und zog die Uhr.
Die Zeiger standen.
Sechzehn Uhr siebzehn.

Er schmunzelte müde.
Dass sie immer dort stehen blieb, war mehr als Laune.
Es war ein Zucken im Stoff der Zeit.

Als er die Uhr wieder einstecken wollte, hörte er ein leises Scharren.
Nicht laut, nur hartnäckig.
Ein Ton wie Kies auf Blech.

Am Rand des Schotterbetts saß ein Hund.
Er war mittelgroß, graues Fell mit dunklen Sprenkeln, die Ohren schwarz wie nasse Kohle.
Die rechte Ohrspitze war eingerissen, als wäre ein Winter daran hängen geblieben.

Der Hund saß wie ein Stein.
Die Pfoten waren ordentlich nebeneinander, der Rücken ruhig.
Nur die Augen bewegten sich, bernsteinfarben, ernst.

Eberhart blieb zwei Schritte entfernt.
Er hob die Hand, nicht hoch, nur offen.
Der Hund blinzelte und legte den Kopf leicht schief.

Du bist ein alter Wächter, sagte Eberhart leise.
Der Hund antwortete nicht, aber sein Schweigen hatte Gewicht.
Es war das Schweigen eines Tieres, das eine Uhr im Bauch trägt.

Die Sonne stand noch warm.
Eberhart sah auf seine Armbanduhr, die neuere, sachliche.
Sechzehn Uhr fünfzehn.

Er atmete einmal tief.
Ich bleibe, sagte er.
Der Hund schloss für einen Augenblick die Augen, als hätte er das erwartet.

Die Minuten glitten wie Schatten über Schotter.
Ein Wind kam aus dem Wald, brachte den Geruch von Öl aus alten Schwellen.
Ein Rabe hopste über das Gras und flog wieder davon.

Sechzehn Uhr siebzehn.
Es war keine Lok, die kam, nur ein Laut, der keiner war.
Ein Muskel in der Luft, der sich zusammenzog.

Der Hund hob den Kopf.
Er lauschte in eine Richtung, in der kein Zug mehr fuhr.
Sein Körper wurde aufmerksam, ohne Gereiztheit, nur mit Pflicht.

Eberhart hörte nichts außer dem Blut in seinen Ohren.
Und doch spürte er, dass etwas an ihm vorbeizog.
Keine Maschine, eher eine Erinnerung, schwer und warm.

Er kannte diesen Druck in der Brust.
Es war derselbe, der ihn früher griff, bevor das Vorsignal auftauchte.
Ein Moment, in dem alles zählt und alles schweigt.

Der Hund stand auf.
Er setzte eine Pfote auf den Schotter, dann die andere.
Er sah zu Eberhart, kurz, ein Blick wie eine Einladung.

Wohin, fragte Eberhart.
Der Hund drehte sich und ging am Gleis entlang, langsam, so als wäre jeder Meter ein Satz aus alter Tinte.
Eberhart folgte, die Schuhe knirschten, das Herz erinnerte.

Sie kamen zu einem Kilometerstein, halb versunken, moosig, schief.
Die Ziffern waren mit Grün überzogen, doch eine Zahl leuchtete noch durch.
Dreiundsiebzig.

Der Hund blieb stehen und setzte sich wieder.
Hier also, murmelte Eberhart.
Er kannte die Stelle und doch nicht, wie man ein Gesicht kennt und den Namen vergisst.

Er kniete sich hin.
Die Knie knackten, die Finger griffen in nasses Gras.
Die Erde war weich und gab nach.

Unter der Mooskruste lag etwas Hartes.
Er schob den Schmutz beiseite, vorsichtig, als könnte die Zeit splittern.
Seine Finger fanden eine Kante aus Glas.

Er hob es hoch.
Ein Stück Laternenkorpus, milchiges Glas, innen dunkel vom Ruß der Jahre.
An einer Seite fehlte eine Ecke, als hätte die Nacht daran genagt.

Der Hund rückte näher.
Eberhart spürte die Wärme des Tieres an seinem Ärmel.
Er roch das Fell, das nach Regen roch, obwohl kein Regen fiel.

Er rieb mit dem Daumen über das Glas.
Der Ruß gab nach, schmierte, setzte sich in die Rillen der Haut.
Darunter schimmerte das Licht, fahl und wach.

Er erinnerte sich an die Handgriffe.
Wie man eine Öllaterne nimmt, den Docht prüft, die Flamme schirmt.
Wie man im Wind die eigene Atemwolke sieht.

Er legte das Glas auf den Knie und zog die Taschenuhr.
Sechzehn Uhr siebzehn.
Die Uhr lief jetzt, aber nur bis zu dieser Zahl, dann hielt sie inne, als würde sie hin hören.

Eberhart lächelte bitter.
Du machst deine Späße, sagte er zur Uhr, doch er meinte die Zeit.
Der Hund seufzte leise, als hätte er genug von Späßen.

Ein schwerer Lastwagen brummte weit weg auf der Bundesstraße.
Der Ton kam und ging wie eine Welle.
Der Wald nahm ihn und gab nichts zurück.

Eberhart beugte sich wieder über das Glas.
Etwas daran gefiel ihm nicht, etwas, das nicht zu Alter und Zufall passte.
Die Kante, dachte er, diese Kante ist nicht vom Fall.

Er wischte fester.
Die Fingerspitzen wurden schwarz, der Nagelrand auch.
Unter der Schicht kam eine feine Linie zum Vorschein.

Er hielt den Atem an.
Die Linie war nicht krumm wie ein Riss.
Sie war straff, entschieden, von einer Hand geführt.

Er legte das Glas schräg in die Sonne.
Die Linie war allein, aber nicht verloren.
Ein Bogen, dann ein kurzer Schwanz.

Eberhart kannte viele Zeichen.
Er hatte Pläne gelesen, Steckbriefe, Formulare.
Er hatte Tafeln gesehen, die über Leben und Tod entschieden.

Er flüsterte einsam in die Luft.
Ein Buchstabe.
Nur einer.

Der Hund berührte seine Hand mit der Nase.
Eberhart fuhr fort zu reiben, als müsste er erst die Welt von Staub befreien.
Die Linie wurde klar.

S.
Der Buchstabe stand schmal und hart eingeritzt.
Nicht vom Zufall, nicht vom Regen, von jemandem, der etwas sagen wollte.

Eberhart spürte, wie ihm kalt wurde.
Nicht von der Luft, die war mild.
Vom Gedanken, der aus dem Glas in ihn kroch.

Seine Kehle war trocken.
Er hörte sich selbst so deutlich wie früher, wenn er in den Funk sprach.
Nur gab es jetzt keinen Empfänger.

Er setzte sich auf den kalten Stein und hielt das Glas auf den Knien.
Er sah den Hund an.
Die Augen des Tieres blieben ruhig, sie suchten nicht, sie fanden.

Wie heißt du, fragte Eberhart.
Kiesel, sagte eine Stimme in ihm, weil es passte, kleiner Stein auf schwerem Grund.
Der Hund wedelte einmal, als hätte er den Namen wiedererkannt.

Eberhart nickte.
Kiesel blieb, der Name blieb, die Zahl blieb.
Sechzehn Uhr siebzehn.

Er nahm die Taschenuhr und klappte sie zu.
Der Klick war klein, aber endete lange in seinem Ohr.
Er fühlte das Gewicht der Uhr in der Jacke wie einen Stein aus Silber.

Er dachte an Laternen.
An Hände, die sie trugen, wenn der Regen fiel.
An Männer, die liefen, wenn der Pfiff kam.

Er stand auf und legte das Glas behutsam in seine Tasche.
Kiesel erhob sich, bereit, ohne Ungeduld.
Die Schatten waren länger geworden.

Ich komme morgen wieder, sagte Eberhart.
Zur gleichen Zeit.
Kiesel blinzelte und wandte sich dem Wald zu.

Eberhart ging langsam zurück in den Ort.
Vor ihm lag die Saale, dahinter die Dächer, auf denen der Abend sich niederließ.
Hinter ihm lag ein Buchstabe im Dunkel der Tasche.

Er blieb an der Brücke stehen und sah auf das Wasser.
Die Strömung machte Falten wie Stirnrunzeln.
Er dachte an Namen, die mit S beginnen.

Er kannte einen, der einmal eine Weiche umgelegt hatte, als die Welt zu laut wurde.
Er kannte einen, der mit einer Laterne lief, als das Signal starb.
Er kannte die Stille nach dem Bremsen.

Das Wasser trug das Licht davon.
Eberhart kehrte um, Schritt für Schritt, als würde der Boden jedes Mal neu zustimmen.
Die Nacht kam freundlich, aber sie brachte keine Ruhe.

Er legte die Uhr auf den Küchentisch.
Er legte das Glas daneben.
Er legte die Hand darauf, als könnte er zwei Zeitalter festhalten.

Das Haus roch nach Brot von gestern.
Eine Fliege trat über das Fensterbrett, als hätte sie vor etwas Respekt.
Eberhart setzte sich und sah dem Nichts beim Atmen zu.

S, sagte er.
Er sagte es leise, dann sagte er es lauter.
Er sagte es, bis der Raum den Laut annahm.

Die Uhr blieb genau in diesem Augenblick wieder stehen.
Sechzehn Uhr siebzehn, obwohl es längst später war.
Eberhart schloss die Augen und hörte eine entfernte Flamme, die von Glas geschirmt wurde.

Er wusste, dass er morgen zum Archiv gehen würde.
Er wusste, dass ein Name auf ihn wartete wie ein Zug am Prellbock.
Und er wusste, dass der Hund pünktlich sein würde.

Auf der Glasfläche stand ein Buchstabe, der nicht verging.
S.
Der Abend hielt ihn wie eine Hand.

Die Vergangenheit hielt noch eine Weiche in der Hand.

🐾 Teil 2: Männchen aus Glas

Der Morgen lag kühl auf Saalfeld.
Die Dächer glänzten noch feucht, als hätte die Nacht etwas zurückgelassen.
Eberhart Linden ging mit geradem Rücken und vorsichtigen Schritten.

In der Manteltasche lag ein Taschentuch.
Darin das Glasstück, das nach Ruß roch.
Seine Finger suchten es immer wieder, als müsse er prüfen, ob es noch da sei.

Kiesel trottete neben ihm.
Der Hund nahm die Straße mit einer Ruhe, die älter wirkte als er selbst.
Die rechte Ohrspitze zuckte, wenn der Wind an den Pappeln griff.

Am alten Bahnbetriebswerk stand das Tor offen.
Die Ziegel waren gedunkelt, die Farbe blätterte, doch der Raum roch wie früher.
Öl, Eisen, Kaffeesatz.

Oswin Krüger hob den Kopf vom Schraubstock.
Er war ein Mann mit breiten Schultern und Händen, die etwas konnten.
Das graue Haar stand ihm wie Draht.

Na Eberhart, sagte er und wischte sich die Finger an einem Lappen.
Die Stimme war tief und freundlich, aber sie trug den Ernst der Werkstatt.
Dann sah er den Hund und nickte ihm zu.

Kiesel blieb an der Schwelle sitzen.
Er legte die Pfoten übereinander und atmete langsam.
Die Nase bewegte sich kaum merklich.

Eberhart zog das Taschentuch.
Er entfaltete es, als läge darin etwas Zerbrechliches und Lebendiges.
Das Glas schimmerte milchig in der Halle.

Oswin trat näher.
Er beugte sich und hielt es gegen das Lichtfenster.
Sein Atem beschlug einen Hauch der Oberfläche.

Weißt du, was das ist, fragte Eberhart.
Er hörte sein eigenes Herz.
Es schlug wie damals kurz vor dem Vorsignal.

Oswin drehte das Stück in der Hand.
Die Kante, sagte er leise.
Das ist kein Zufall gewesen.

Er griff nach einer Staubbürste und strich über den Ruß.
Es kam mehr Glas zum Vorschein, klarer, härter.
Eine feine Einkerbung blieb sichtbar.

Ein Buchstabe, murmelte Oswin.
S.
Streng geritzt, nicht gehauen.

Eberhart nickte, ohne die Lippen zu öffnen.
Sein Blick blieb an dem Strich hängen, der zu viel bedeutete und doch nichts sagte.
Die Luft im Raum stand still.

Oswin holte aus einem Regal eine alte Laterne.
Das Metall war stumpf, die Scheiben grün und rot.
Innen der Schornstein aus Glas, fast so wie das Stück auf der Werkbank.

Weichenlaterne, sagte er.
Petroleum, Docht, Schirmglas.
Die Männer trugen sie, wenn Signale versagten oder die Nacht zu nass war.

Er setzte die Laterne vor das Fragment.
Die Rundung passte, als wären sie Verwandte.
Im Glas des alten Geräts lag derselbe Ton von ersticktem Licht.

Eberhart berührte den Rand der Laterne, vorsichtig wie eine Wunde.
Er spürte das kalte Metall und die Wärme eines anderen Sommers.
In seinem Bauch stieg ein trüber Stolz auf, gemischt mit Scheu.

Kiesel erhob sich lautlos.
Er ging zwei Schritte, stoppte und hob die Nase.
Sein Körper spannte sich, ohne hart zu werden.

Der Hund schnupperte an einer Holzkiste.
Seine Brust vibrierte kaum hörbar.
Dann stieß er einen kurzen, weichen Laut aus.

Oswin hob den Deckel.
Die Kiste roch nach altem Holz und einer Spur, die fast fort war.
Paraffin, sagte Oswin und lächelte schief.

Kiesel blinzelte und setzte sich wieder.
Als hätte er bestätigt, was in der Luft stand.
Sein Schweif berührte zweimal den Boden.

Eberhart nahm das Glas zurück in die Hände.
Die Finger bekamen wieder schwarze Rillen.
Er hielt es dicht vor die Augen, bis die Welt dahinter verschwamm.

Ich brauche einen Namen, sagte er leise.
Einen, der mit S beginnt.
Einen, der in der Hand eines Weichenwärters lag.

Oswin betrachtete ihn lange.
Er kannte diesen Blick, der auf etwas Unsichtbares fiel.
Er hatte ihn selbst getragen, als die Züge lauter waren.

Eberhart zog die Taschenuhr.
Das Gehäuse glänzte matt.
Ein kleines Gewicht, das mehr wiegt als Metall.

Er klappte sie auf.
Das Ticken kam wie aus einem Flussbett.
Gleichmäßig und doch unruhig.

Die Zeiger standen im nächsten Atem an.
Sechzehn Uhr siebzehn.
Es war, als hätte die Uhr auf dieses Licht gewartet.

Oswin sah auf.
Schon wieder, fragte er.
Eberhart nickte und drückte die Achse.

Die Uhr sprang nicht weiter.
Sie hielt den Atem an wie ein Tier vor einem Sprung.
Eberhart drehte sie, als wollte er ihr Mut zureden.

Er hob den inneren Deckel.
Das Silber war innen weich poliert von Jahren.
Eine alte Gravur lag darin, fast fortgetragen vom Daumen.

E. L., las Oswin.
Dann eine zarte Linie bis zum nächsten Punkt.
S. H.

Eberhart spürte eine Bewegung in seinem Brustbein.
Als wäre dort etwas aufgehängt gewesen und schwänge jetzt frei.
Sein Rücken wurde kalt, obwohl die Halle warm war.

Er kannte die ersten Buchstaben.
Sie gehörten ihm, schlicht und ernst.
Die zweiten standen da wie eine Tür.

Wer, fragte Oswin ruhig.
Eberhart schüttelte den Kopf.
Die Wörter wollten nicht kommen.

Die Werkstatt war so still, dass man die Späne hören konnte.
Ein Fahrrad klapperte draußen auf dem Hof.
Irgendwo rief eine Amsel, kurz und klar.

Oswin legte die Laterne zurück.
Seine Hände waren jetzt sauber, doch an den Fingern stand der Schatten.
Er beugte sich zu Kiesel und strich ihm über den Nacken.

Guter Hund, sagte er.
Ein Wächter.
Manche Tiere hören, was Menschen vergessen.

Eberhart schloss die Uhr und hielt sie fest.
Das Klicken fiel in ihn hinein.
Er sah an Oswin vorbei in eine Zeit, die am Rand seiner Augen stand.

Er erinnerte sich an Regen auf Metall.
An Schuhe, die durch Wasser schlugen.
An einen Ruf, der in Wind zerriss.

Die Bilder blieben kurz.
Sie rissen ab wie Fäden.
Zurück blieb eine Leere, die Namen verlangte.

Oswin trat zum alten Schrank, in dem Formulare lagen.
Er zog eine Schublade auf und holte ein Heft, die Seiten vergilbt.
Er blätterte, als könnte darin ein Schlüssel liegen.

Hier steht nichts für uns, sagte er schließlich.
Nicht mehr.
Was wir brauchen, liegt woanders.

Eberhart wartete.
Er wusste, dass Oswin nicht leichtfertig sprach.
Er wusste auch, dass Worte in Hallen wie dieser selten umsonst waren.

Geh ins Archiv, sagte Oswin.
Zur Bahnverwaltung in der Bahnhofstraße.
Frag nach Anselm Faber.

Der kennt die Störungen, fuhr er fort.
Er weiß, wie die Schichten liefen und wer die Lampen trug.
Wenn irgendwo ein Name an einer Stunde hängt, findet er ihn.

Eberhart nickte langsam.
Der Klang des Namens war neu und alt zugleich.
Er fühlte, wie etwas in ihm nach diesem Mann griff.

Kiesel stand auf, als hätte er einen Befehl gehört.
Er stellte sich neben Eberhart und sah ihm ins Gesicht.
Die bernsteinfarbenen Augen waren ruhig und nah.

Oswin füllte zwei Becher aus einer kleinen Thermoskanne.
Der Kaffee war schwarz und roch nach Heimat.
Eberhart trank und spürte, wie seine Hände wieder warm wurden.

Danke, sagte er.
Für die Laterne.
Für den Blick, den sie geöffnet hat.

Oswin hob die Laterne noch einmal an.
Er hielt sie wie ein Herz.
Dann stellte er sie zurück, nicht weit vom Licht.

Eberhart steckte das Glas in das Taschentuch und knotete die Enden.
Er legte die Uhr in die andere Tasche, getrennt und doch verbunden.
Beide Dinge drückten gegen die Rippen, als wollten sie sich erinnern.

Auf dem Hof wartete die helle Luft.
Ein leichter Wind fuhr durch Kiesels Fell.
Die Sonne löste den letzten Nebel vom Pflaster.

Eberhart blieb am Tor stehen und sah zurück.
Oswin stand in der Tür, groß und still.
Er hob zwei Finger, als segnete er einen Weg.

An der Straße vorbei fuhren Kinder auf Rädern.
Ein Lieferwagen rumpelte zum Markt.
Der Tag tat, was Tage tun.

Eberhart ging Richtung Bahnhofstraße.
Kiesel hielt den Takt, Schritt für Schritt.
Die Stadt machte Platz.

Vor dem alten Stellwerk blieb er kurz stehen.
Das Mauerwerk trug Spuren von Händen, die Befehle gaben.
Er legte die Hand auf den Ziegel und spürte eine Wärme, die nicht von der Sonne kam.

Dann ging er weiter.
Er dachte an Buchstaben, die man in Glas ritzt, wenn die Zeit knapp ist.
Er dachte an einen Mann, dessen Initialen auf seinem Deckel standen.

Vor dem Verwaltungsgebäude hielt er inne.
Das Schild war unscheinbar.
Die Tür atmete Kühle aus.

Morgen, sagte er leise zu Kiesel.
Heute reicht es zu wissen, wo der Name wohnt.
Der Hund setzte sich und sah ihn schweigend an.

Eberhart wandte sich zum Fluss.
Er brauchte Wasser in den Augen, um klar zu sehen.
Die Saale nahm sein Spiegelbild ohne Fragen.

Als er sich wieder auf den Heimweg machte, fühlte er das Gewicht der beiden Taschen.
Glas und Uhr.
Licht und Zeit.

Im Vorbeigehen roch er an seinen Fingern.
Noch immer ein Hauch von Petroleum.
Noch immer die Spur einer Flamme, die nicht brennt.

Zu Hause legte er das Taschentuch auf den Tisch und die Uhr daneben.
Er setzte sich und wartete, ohne zu wissen worauf.
Vielleicht auf ein Klopfen, das kein Mensch macht.

In der stillen Küche hörte man die Zeiger nicht.
Und doch war da eine Zahl in der Luft.
Sie stand ruhig und wartete.

Sechzehn Uhr siebzehn, sagte er.
Die Worte legten sich hin wie Schienen.
Darauf würde etwas kommen.

Morgen gehe ich, sagte er.
Ich frage nach Anselm Faber.
Ich halte das Glas in die Bürosonne und nenne den Buchstaben.

Die Uhr vibrierte kaum merklich in seiner Hand.
Sie tat, als wolle sie wieder stehen bleiben.
Sie tat, als hörte sie zu.

Oswin hatte recht.
Die Laterne war eine bedeckte Erinnerung.
Und irgendwo brannte sie noch.

Der Name liegt im Papier und atmet.

🐾 Teil 3: Das rote Zeichen im Papier

Am Vormittag war die Bahnhofstraße still.
Ein Lieferwagen summte vorbei, als Eberhart Linden die Treppe zur Bahnverwaltung hinaufstieg.
Kiesel blieb an seiner Seite und setzte sich vor der Tür, als wartete er auf eine Glocke.

Im Foyer roch es nach Linoleum und Ordnern.
Eine alte Standuhr erklärte die Zeit geduldig.
Eberhart legte die Hand auf die Tasche mit der Uhr und atmete durch.

Die Dame am Empfang hob den Blick.
Ihr Namensschild glänzte, als käme eben die Sonne heraus.
Eberhart nannte seinen Namen und fragte nach dem Archiv.

Im Leseraum war es hell und kühl.
Fenster zur Saale, lange Tische, der Staub lag wie feiner Schnee auf den Regalen.
Kiesel blieb an der Türmatte liegen, die Pfoten ordentlich, die Augen wach.

Anselm Faber trat aus dem Magazin.
Er war mittelgroß, trug eine Brille mit dünnem Rand und ein Gesicht, das zuhört.
In seinen Händen lagen Baumwollhandschuhe und ein Lächeln, das nicht zu groß war.

Sie sind Eberhart Linden, sagte er.
Ich habe schon von Ihnen gehört.
Es klang nicht nach Gerücht, sondern nach Erinnerung.

Eberhart nickte.
Er legte das in Stoff gewickelte Glasstück auf den Tisch.
Er legte die Taschenuhr daneben.

Anselm beugte sich vor.
Er roch nicht an dem Glas, aber seine Augen taten es.
Dann sah er auf die Uhr, die bei der falschen Zahl stehen geblieben war.

Sechzehn Uhr siebzehn, sagte Anselm still.
Er sagte es wie jemand, der eine Haustür öffnet.
Er holte Luft, als läge hinter der Zahl ein Flur.

Ich suche 1985, sagte Eberhart.
Saalfeld, Strecke in Richtung Blankenstein.
Irgendetwas bei Kilometer dreiundsiebzig.

Anselm nickte und verschwand im Magazin.
Man hörte Schubfächer, das Rollen einer Leiter, das Tappen eines bedachten Schrittes.
Kiesel hob den Kopf und legte ihn wieder ab.

Als Anselm zurückkam, trug er zwei große gebundene Bücher und eine flache Schachtel.
Er legte alles vorsichtig hin, als legte er eine Verletzung auf einen weichen Verband.
Die Handschuhe saßen nun an seinen Händen.

Betriebsbuch Saalfeld, Jahrgang 1985, sagte er.
Hier liegen Meldungen, Störungen, Notizen aus den Stellwerken.
Und hier Schichtzettel, sortiert nach Namen.

Er schlug das erste Buch auf.
Das Papier war dick und hatte den Ton von Brotkruste.
Die Schrift war sauber, doch der Atem der Schreiber hing noch dazwischen.

Anselm blätterte langsam.
Sein Finger prüfte die Monate wie ein Arzt den Puls.
Dann blieb er stehen.

Hier, sagte er.
Zweiter Oktober.
Er drehte das Buch zu Eberhart.

Auf der Seite stand vieles, Zahlen, Kürzel, kleine Haken.
Doch etwas stand darüber.
Ein Stempel in Rot.

Notstopp, las Eberhart leise.
Kilometer dreiundsiebzig.
Sechzehn Uhr siebzehn.

Das Rot war nicht verblasst.
Es schnitt in das Papier wie eine Heftklammer in Haut.
Eberhart legte die Fingerspitze an den Rand, ohne zu berühren.

Darunter stand eine Zeile in dunkelblauer Tinte.
Triebfahrzeugführer Eberhart Linden.
Zuglänge, Wetterlage, Sicht eingeschränkt.

Sein Name lag ruhig dort, als wäre er nie fort gewesen.
Eberhart spürte, wie ihm warm wurde und kalt zugleich.
Er hörte die Hallenluft und darunter das alte leise Rufen.

Er sah die Tinte an, als könnte sie sich lösen.
Sie tat es nicht.
Sie hielt ihn fest.

Anselm sagte nichts.
Er kannte das Schweigen von Menschen, die in Akten einen Spiegel finden.
Er ließ die Zeit arbeiten.

Eberhart zog die Taschenuhr aus der Jacke.
Er klappte sie auf, obwohl er die Zahl kannte.
Die Zeiger standen still, gehorsam und trotzig.

Sechzehn Uhr siebzehn, sagte er.
Manchmal kommt eine Zahl zurück wie ein Hund.
Anselm nickte, als wäre das ein Satz aus einem Lehrbuch.

Er strich mit dem Finger die Spalte Fahrdienstleiter.
Hier steht eine Meldung aus dem Stellwerk an der Brücke.
Anlage gestört, Laterne beschädigt, Sicht durch Niederschlag stark eingeschränkt.

Eberhart sah das Glasstück vor sich liegen.
Er sah die Kanten, die vom Ruß befreit waren.
Er hörte ein winziges Klacken im Uhrwerk, das nicht da war.

Anselm schloss das Betriebsbuch und öffnete die flache Schachtel.
Darin lagen Hefte und Karten, sauber beschriftet.
Er zog einen Stapel mit grauem Umschlag hervor.

Schichtunterlagen, sagte er.
Stellwerk, Gleistafeln, Weichenberichte.
Hier sind die Namen alphabetisch.

Er fuhr mit dem Daumen durch die Register.
H, sagte er.
Heidemann, Silvan.

Der Name fiel leise auf den Tisch.
Er blieb dort liegen, als gehöre er dahin.
Eberhart atmete langsam aus.

Anselm band den Faden des Heftes auf.
Die Schrift war fest, ein wenig schräg, ein paar Buchstaben hatten einen dunklen Bauch.
Die Seiten trugen Spuren von Regen, der an Händen trocknete.

Dienstbeginn vierzehn Uhr, las Anselm.
Weiche an der Brücke kontrolliert, Laterne ersetzt.
Meldung an Fahrdienstleitung, Sicht einschränkend, Starkregen im Zulauf.

Er blätterte weiter.
Eine Randnotiz, kleiner geschrieben.
Ein Tier auf dem Gleis, unklar, vermutlich Hund, Geschwindigkeit reduziert.

Kiesel hob den Kopf, als wäre sein Name gefallen.
Doch niemand hatte ihn gerufen.
Eberhart fühlte dennoch, wie etwas in ihm zustimmte.

Anselm zog ein dünnes Blatt aus einer Tasche im Umschlag.
Eine Skizze, mit Bleistift und Lineal gezeichnet.
Die Brücke, der Kilometerstein, ein Pfeil, eine kleine Figur.

Hier, sagte er und tippte an den Rand der Zeichnung.
Ein Kreis auf dem Gleis, mit einem kleinen Kreuz.
Anmerkung Hund, von der Seite aufgetaucht, Alarmwirkung.

Eberhart beugte sich tiefer.
Die Linien waren ruhig und klar.
Sie erzählten mehr als viele Sätze.

Er sah die Stelle, an der er gestern gekniet hatte.
Er sah den Stein, den Moosrand, die Richtung in die der Pfeil wies.
Es war dieselbe Welt, nur ohne Wind.

Anselm legte das Blatt auf das Betriebsbuch.
Das Rot berührte den Bleistift.
Das Auge hatte beide Farben auf einmal.

Eberhart schloss kurz die Augen.
Die Bilder kamen näher, aber sie blieben scheu.
Regen auf Metall, ein Ruf aus der Ferne, das Dröhnen, das man bremst.

Er öffnete die Augen wieder.
Seine Hände lagen flach auf dem Tisch.
Auf der linken Hand ruhte ein Schatten vom Ruß des Glases.

Silvan Heidemann, sagte Eberhart langsam.
Der Name hatte Gewicht, das sich gleichmäßig verteilte.
Er fühlte sich an wie ein Werkzeug, das gut in der Hand liegt.

Anselm nickte.
Weichenwärter, Schicht am Nachmittag.
Ein Mann, der lief, wenn es nötig war.

Eberhart sah auf die Taschenuhr und dann auf den Stempel.
Die beiden Sechzehn Uhr siebzehn standen sich gegenüber wie zwei Signale.
Zwischen ihnen lag eine Sekunde, die nie verging.

Haben Sie noch etwas, fragte er.
Irgendetwas, das von einem Menschen kommt und nicht nur von Zahlen.
Anselm legte die Handflächen aneinander, als danke er etwas.

Er stand auf und ging wieder ins Magazin.
Die Tür schloss sich leise.
Kiesel legte den Kopf schräg und lauschte.

Der Raum atmete.
Eberhart hörte die Saale, die es eigentlich nicht zu hören gibt.
Er hörte seinen eigenen Namen im Papier.

Anselm kehrte mit einem schmalen Umschlag zurück.
Auf dem Umschlag stand ein Datum und ein kurzer Vermerk.
Er setzte sich und zog einen dünnen Bogen hervor.

Handschriftliche Nachmeldung, sagte er.
Nachlaufende Notiz vom Stellwerk.
Sie wurde später beigelegt.

Die Schrift war dieselbe, nur schwerer.
Silvan Heidemann meldet, dass er an der Brücke eine Laterne notdürftig ersetzt hat.
Er meldet Sicht einschränkend, Geräuschpegel hoch, Hund auf dem Gleis, Zug bremst ordnungsgemäß.

Am Ende stand ein kleiner Zusatz, eng an den Rand geschrieben.
Kind im Bereich des Widerlagers vermutet, Sicht nicht ausreichend, weitere Prüfung durch Streife empfohlen.
Unterschrift S Heidemann.

Die Zeilen lagen vor Eberhart wie ein schmaler Steg.
Er setzte den Fuß darauf und wusste doch, dass er noch nicht drüber war.
Die Luft im Lesesaal war klar, aber in ihm war Nebel.

Er berührte die Gravur im Deckel der Uhr mit dem Daumen.
E L und S H.
Zwei Buchstabenpaare, die sich sahen.

Anselm legte den Umschlag zur Seite.
Er strich die Skizze glatt, als wolle er eine Welle beruhigen.
Dann sah er Eberhart an.

Sie waren der Triebfahrzeugführer, sagte er ohne Fragezeichen.
Sie haben gebremst.
Das steht hier deutlich.

Eberhart nickte, aber es war kein Sieg.
Es war die Anerkennung eines Schrittes, den der Körper gemacht hatte, als der Kopf noch suchte.
Er atmete und spürte das Alter neben sich wie einen Freund.

Kiesel stand auf und ging langsam zum Tisch.
Er blieb am Rand stehen und legte den Kopf auf die Tischplatte.
Seine Augen waren ruhig und warm.

Anselm lächelte dem Hund zu.
Manche Geschichten wählen sich einen Wächter, sagte er.
Vielleicht hat diese Geschichte sich einen Hund gewählt.

Eberhart hob die Hand und legte sie kurz auf Kiesels Stirn.
Fell, das nach Regen roch, obwohl draußen Sonne lag.
Ein Herzschlag, der nichts verlangte.

Er packte das Glasstück wieder in das Tuch.
Er klappte die Uhr zu.
Die Geräusche waren klein, aber sie fielen weit.

Darf ich Kopien anfertigen, fragte Anselm.
Für Sie, für die Ordnung der Dinge.
Eberhart nickte und sah auf die rote Markierung.

Das Rot leuchtete, als wäre es eben gesetzt worden.
Es sah nicht aus wie Tinte.
Es sah aus wie eine Wunde, die nicht blutet.

Anselm trug die Seiten zum Kopierer am Ende des Raumes.
Das Gerät brummte und spie blasses Papier aus.
Eberhart stand auf und ging zum Fenster.

Die Saale floss, als hätte sie Zeit.
Auf dem Wasser lag ein Blatt und drehte sich.
Eberhart dachte an eine Laterne, die im Regen hält, bis die Hand nicht mehr kann.

Anselm reichte ihm die Kopien.
Er steckte sie sorgfältig in eine Mappe.
Auf die Mappe schrieb er mit ruhiger Hand zwei Worte.

Kilometer dreiundsiebzig.
Sechzehn Uhr siebzehn.
Die Buchstaben standen gerade, ohne Zierde.

Ich danke Ihnen, sagte Eberhart.
Seine Stimme klang tiefer als sonst.
Anselm nickte nur.

Kiesel drehte sich zur Tür, als wäre die Stunde um.
Eberhart legte die Mappe in die Jacke und nahm die Uhr wieder in die Hand.
Das Metall fühlte sich an wie ein Schritt.

An der Schwelle blieb er stehen.
Er wandte sich noch einmal an den Tisch, auf dem die Bücher ruhten.
Dort lag die Skizze, die einen kleinen Kreis auf dem Gleis zeigte.

Ein Hund, sagte er.
Das Wort war einfach und groß.
Er ließ es im Raum zurück.

Er trat hinaus in das Treppenhaus.
Der Tag war derselbe, aber sein Gewicht hatte sich verschoben.
Kiesel lief neben ihm, leicht und sicher.

Vor dem Gebäude blieb Eberhart stehen und sah die Mappe an.
Er spürte den roten Stempel durch das Papier.
Er spürte die Hand eines Mannes, der bei Regen schrieb.

Er hob die Uhr und hörte, was sie nicht sagte.
Dann steckte er sie weg.
Er ging Richtung Fluss.

Der Wind roch nach Gras und alter Farbe.
Die Stadt machte das, was Städte tun.
Doch irgendwo stand eine Zahl in der Luft und wartete.

Auf der Skizze stand ein Tier auf dem Gleis.
Es stand dort nicht zufällig.
Jemand hatte gesehen, was kommen musste.

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