Der Hund und das alte Bahngleis | Die weiße Linie zwischen zwei Leben: 16:17, ein Hund, und eine Lampe im Regen brennt

🐾 Teil 4: Die Brücke vor der Flut

Am späten Nachmittag ging Eberhart Linden mit Kiesel zum stillgelegten Gleis.
Die Saale roch nach nassem Holz und kaltem Eisen.
Die Luft stand, als hielte sie den Atem an.

Die Taschenuhr lag schwer in seiner Jacke.
Sechzehn Uhr siebzehn kam näher wie ein Schritt hinter ihm.
Kiesel trottete ruhig, doch seine Ohren lauschten.

Am Kilometerstein dreiundsiebzig blieb Eberhart stehen.
Er wusste, dass in diesem Winkel der Himmel tiefer war.
Er wusste, dass hier ein Ton wohnte, den nur Erinnerungen hören.

Er nahm das Glas der Laterne aus dem Tuch.
Der Ruß in den Rillen zeichnete eine Dämmerung nach.
Der Buchstabe S lag still, doch er öffnete die Tür.

Der Wind hob an.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, die Halme wurden grau.
Eberhart schloss die Augen und ließ die Zeit kommen.

Es war wieder der zweite Oktober.
Das Jahr hatte nasse Kanten.
Die Saale trat über, ein schweres Tier im Flussbett.

Der Himmel hing tief und warf kalte Lappen.
Der Regen fiel dicht, nicht in Tropfen, sondern in Fäden.
Das Wasser rauschte unter den Bohlen wie ein Atem, der zu schnell ging.

Eberhart saß hoch in der Lok.
Das Führerstandsfenster war ein Rechteck aus Regen.
Die Scheibenwischer tanzten, aber sie gewannen nicht.

Der Funk kratzte, die Worte waren kurz.
Stellwerk meldete Störung am Signal.
Sicht eingeschränkt, langsam fahren, auf Sicht achten.

Eberhart legte die Hand auf den Fahrschalter.
Unter der Haut summte die Maschine wie ein Tier, das gehorcht.
Er prüfte den Manometer, er prüfte sich selbst.

Der Druck war gut.
Die Räder sangen leise, solange sie noch trocken waren.
Dann traf Wasser auf Stahl und die Töne wurden tiefer.

Links kam die Brücke.
Ein Gitter aus Stahl, das über dem Fluss stand und bebte.
Die Nieten glänzten nass wie Augen.

Eberhart sah die Laterne am Stellwerk blinzeln.
Das Licht war matt, ein müder Blick im Regen.
Neben dem Gehäuse stand eine dunkle Gestalt.

Silvan Heidemann war dort, ein Mann im Regenmantel.
Er hielt eine Lampe mit der linken Hand am Schirm.
Seine rechte suchte den Hebel, seine Schritte waren schnell und fest.

Eberhart gab einen Pfiff.
Der Ton schnitt in das Wasser und kam wie ein Echo zurück.
Er pfiff noch einmal, kurz und abgehackt.

Das Horn antwortete wie ein Herz, das stolpert.
Ein kurzer Laut, eine Pause, wieder ein Ruf.
Zwischen den Lauten lag die Angst.

Die Geschwindigkeit sank.
Der Sand streute, trocken gegen nass, ein letzter Griff nach Haftung.
Unter den Rädern knirschte die Welt.

Die Brücke war jetzt vor der Nase.
Die Bögen trugen Wasser und Wind.
Der Fluss darunter schlug gegen Steine, als wollte er hoch.

Eberhart spürte einen Druck auf dem Brustbein.
Er kannte ihn, er gehörte zur Arbeit.
Er war kein Feind, er war eine Warnung.

Er blickte in die Schienen und sah eine Bewegung.
Kein Mensch, kein Ast, etwas Kleines und Entschlossenes.
Ein Hund stand auf dem Gleis, der Kopf hoch, die Beine wie Nägel.

Das Fell war dunkel vor Nässe.
Die Augen brannten unter Wasser.
Der Hund bellte gegen Stahl und Regen, als gäbe es sonst niemanden.

Eberhart riss den Griff und legte die Schnellbremsung ein.
Die Maschine gehorchte mit einem Schmerz, der hörbar war.
Druck ging zurück, Luft schnitt durch Ventile, die Räder wollten bleiben.

Die Lok heulte, das Horn antwortete.
Kurze Stöße, atemlos, wie ein Puls in einer Kehle.
Die Wagen hinten zitterten und legten Gewicht auf die Schienen.

Vor der Brücke stand Silvan schon im Lauf.
Sein Mantel klebte, die Lampe war ein kleiner Stern in grauem Wasser.
Er warf einen Blick zu Eberhart, nur einen, und dann zum Hebel.

Eberhart hielt den Hund im Blick.
Das Tier wich nicht.
Es stand, als hielte es etwas hinter sich fest.

Der Regen brach in Strähnen an der Scheibe.
Die Wischer kamen nicht nach.
Die Welt war eine fließende Zeichnung.

Eberhart hörte die Räder singen und dann schreien.
Stahl auf Stahl, ein hoher Ton, der übersetzt, was Angst ist.
Er hörte die Wagen antworten, tiefer, wütender.

Die Lok wurde schwer und leicht zugleich.
Eine Hand drückte sie nach vorn, eine andere zog sie zurück.
Zwischen beiden Händen lag die Entscheidung.

Silvan erreichte den Hebel.
Er setzte die Lampe auf den Boden und griff mit beiden Händen zu.
Seine Schultern gingen hoch, die Sehnen standen.

Der Hebel war hart.
Er hing fest in seinem eigenen Rost.
Silvan setzte den Fuß an, presste, und der Metallkörper gab stöhnend nach.

Eberhart pfiff wieder.
Ein kurzer, gebrochener Ruf, mehr bittend als befehlend.
Das Horn zitterte, der Ton sprang über das Wasser und fiel hinein.

Der Hund machte einen Schritt nach vorn.
Eberhart sah den Kopf, die nassen Ohren, den schmalen Rücken.
Er sah den Blick, der durch ihn hindurch ging.

Er dachte nicht an Vorschriften.
Er dachte an Augen, die ihn ansahen.
Er dachte an Hände, die hinter einer Mauer von Regen etwas suchten.

Die Bremsen griffen.
Der Sand kam, der Sand war zu wenig und doch alles, was da war.
Die Räder rutschten, fanden Halt, rutschten wieder.

Silvan zog den Hebel noch einmal.
Das Gestänge sprang ein Stück, der Weichenkörper knurrte.
Das Signal wollte leben.

Die Lampe flackerte.
Der Docht nahm Luft, verlor sie, nahm sie wieder.
Ein Funke riss eine kleine Linie in die Dunkelheit.

Eberhart fühlte, wie die Lok schwer wurde.
Im Bauch des Führerstandes schob sich der Ton nach oben.
Er legte den Körper dagegen, als könnte er sie mit seinem Gewicht halten.

Der Hund sprang auf die Schwelle neben dem Schienenkopf.
Er bellte nicht mehr.
Er stand nur noch da und atmete.

Ein Schatten bewegte sich am Widerlager.
Eberhart sah es nicht, er ahnte es nur.
Eine kleine Hand, eine Bewegung, die nicht von Wasser kam.

Der Regen schlug das Bild wieder zu.
Die Scheibe wurde blind.
Eberhart riss das Fenster an und holte Luft, die nach Fluss roch.

Silvan lief an der Lampe vorbei, den Blick tief.
Er rief etwas, das im Regen zerfiel.
Seine Beine fanden Boden, auf dem kaum noch Boden war.

Die Lok schob, als wäre der Hang steiler geworden.
Das Herz im Horn stolperte, der Ton kam stückweise.
Zwischen den Stößen war Stille, die mehr sagte als Lärm.

Eberhart spürte den Moment, in dem alles kippt.
Die Wasser, die Räder, die Entscheidung im Bauch.
Er hielt den Griff, bis die Finger weh taten.

Dann kam das Geräusch, das jeder kennt und niemand haben will.
Metall, das schreit, wenn es sich gegen sich selbst legt.
Ein Ton, der keine Mitte hat, nur Kanten.

Die Lok zuckte, sie schob noch, dann bremste sie wie ein Tier, das stolpert.
Die Wagen kettenrasselten und setzten sich gegeneinander.
Über dem Fluss sprang ein Sprühregen von Funken, als hätte jemand Sterne geworfen.

Silvan war am Rand der Brücke.
Die Lampe war wieder in seiner Hand, sie brannte jetzt ruhig.
Er beugte sich über die Kante, als würde er die Nacht anheben.

Eberhart hörte ein Rufen, das nicht zu ihm gehörte.
Es kam von unten, es kam von etwas Kleinem.
Er hörte dazu den Atem eines Hundes, der nicht weicht.

Die Lok stand fast.
Die Kupplungen arbeiteten in kurzen Stößen.
Die Schienen sangen nach, ein dünner Faden, der nicht reißen durfte.

Eberhart sah Silvan noch einmal.
Ein Gesicht unter Wasser, aber die Augen brannten.
Er sah die Hand, die sich streckte.

Die Taschenuhr in Eberharts Jacke drückte, als wolle sie heraus.
Er dachte an den Deckel, an die Buchstaben.
Er dachte an das Rot im Buch, das noch nicht geschrieben war.

Der Hund wandte den Kopf und sah ihn noch einmal an.
Dann sprang er seitlich in den Schatten der Brücke.
Der Regen nahm die Kontur und trug sie fort.

Die Lok kam zum Stillstand.
Ein letzter Ruck, ein letzter Atem.
Das Horn gab noch einen Ton, kurz und gebrochen.

Im nächsten Augenblick war jeder Laut zu viel.
Es blieb nur Metall, das sich beschwerte.
Und Wasser, das klatschte, als würde es zählen.

Eberhart stand auf, aber seine Beine waren plötzlich fern.
Er griff nach der Tür, nach der Luft, nach etwas, das fest ist.
Das Bild vor ihm wurde zu einer flachen Ebene aus Grau.

Er hörte noch einmal Silvans Stimme.
Er verstand kein Wort.
Er verstand nur, dass sie nicht für ihn war.

Dann war da der Ton, der die Welt schmal macht.
Stahl, der schreit, wenn er muss.
Und hinter dem Ton ein schwarzer Raum, der nicht fragt.

Eberhart fiel nicht.
Er wurde nur leichter, als müsste er nicht mehr tragen.
Die Brücke entfernte sich, der Fluss blieb stehen.

Kiesel bellte irgendwo in der Gegenwart.
Eberhart öffnete die Augen und die Luft war warm.
Die Saale roch wieder nach Sommer, nicht nach Flut.

Er stand noch immer am Kilometerstein.
Das Glasstück lag in seiner Hand und wog wie eine nasse Stunde.
Der Buchstabe S glänzte matt.

Kiesel saß dicht an ihm und atmete ruhig.
Seine Augen waren wach und freundlich.
Eberhart legte ihm die Hand in den Nacken.

Die Taschenuhr blieb still, obwohl sie gehen konnte.
Sechzehn Uhr siebzehn stand im Kopf und nicht im Metall.
Eberhart sah zur Brücke hinüber.

Er wusste, dass ihm etwas fehlt.
Nicht der Name, nicht die Zahl.
Es fehlte ein Teil der Nacht.

Er atmete tief und schmeckte eine ferne Bitterkeit.
Sie kam nicht von heute.
Sie kam von einem Ton, der immer noch nachhallte.

Er strich mit dem Daumen über das Glas.
Die Rille im Buchstaben fühlte sich an wie eine Narbe.
Sie versprach nicht, zu heilen.

Die Stille am Gleis war freundlich.
Aber sie hielt etwas fest.
Es war nicht klein.

Im Kopf war der Regen wieder da.
Und mitten im Regen stand eine Lampe, die nicht erlosch.
Sie wartete auf einen Namen, der unten im Wasser lag.

Die Erinnerung hielt an der Brücke und sah nicht herunter.

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