Der Hund und das alte Bahngleis | Die weiße Linie zwischen zwei Leben: 16:17, ein Hund, und eine Lampe im Regen brennt

🐾 Teil 5: Die Witwe am Stellwerk

Der Weg zu Grete Heidemann führte durch eine ruhige Seitenstraße.
Die Gärten lagen still im Nachmittagslicht.
Ein Apfelbaum warf sein Muster auf einen Zaun.

Eberhart Linden hielt vor einem kleinen Haus mit Ziegeldach.
Die Fenster waren klar geputzt.
Im Beet standen Bohnenstangen, an denen der Wind rieb.

Kiesel blieb am Gartentor sitzen.
Er hob die Nase und prüfte die Luft.
Sein Blick ging an Eberhart vorbei hinüber zu den Gleisen.

Die Klingel klang wie ein Löffel in einem Glas.
Schritte wurden auf Holz.
Die Tür öffnete sich.

Grete Heidemann war eine schmale Frau mit ruhigen Händen.
Ihr Haar war weiß und bündig zusammengefasst.
Ihre Augen waren nicht alt, sie waren wach.

Sie musterte den Hund und dann Eberhart.
Ihr Lippenrand bewegte sich kaum.
Sie bat die beiden herein.

Der Flur roch nach Seife und altem Leinen.
An der Wand hing ein Foto in Schwarzweiß.
Ein Mann mit Mütze stand neben einer Laterne.

Das Wohnzimmer war schlicht.
Ein Ofen, ein Tisch, zwei Stühle, ein Regal mit Ordnern.
Auf der Kommode lag eine kleine Blechdose.

Grete stellte Wasser auf.
Sie setzte sich nicht gleich, sondern blieb eine Sekunde stehen.
Dann nickte sie, als hätte sie etwas entschieden.

Sie sind Eberhart Linden.
Ihre Stimme war fest, aber freundlich.
Anselm Faber hat angerufen.

Eberhart nickte.
Er legte das Tuch mit dem Glas auf den Tisch.
Die Taschenuhr legte er daneben.

Grete sah das Glas und trat näher.
Sie streifte es nicht, sie schaute nur.
Der Buchstabe im Ruß stand wie eine feine Narbe.

Sie atmete langsam aus.
Er hat es geritzt, sagte sie leise.
Er wollte, dass etwas bleibt, wenn er geht.

Eberhart hob den Kopf.
Sein Herz machte einen warmen Fehler.
Ihr Mann, fragte er.

Grete setzte sich und legte die Hände auf die Tischkante.
Silvan Heidemann, sagte sie.
Weichenwärter am Nachmittag, ein Mann, der mit den Füßen dachte.

Eberhart hörte die Anrede wie einen alten Gruß.
Er kannte den Klang der Männer, die im Regen laufen.
Er kannte ihren Ernst.

Grete stand wieder auf und holte die Blechdose.
Der Deckel ging schwer.
Sie zog einen kleinen Leinenbeutel hervor.

Sie goss den Inhalt in ihre Hand.
Auf ihrer Haut lag ein alter Eisenpfeifer, matt und glatt.
Darauf die Gravur in dünnen Zeichen.

S H, murmelte Eberhart.
Darunter stand eine Zahl, klein und klar.
Sechzehn Uhr siebzehn.

Grete reichte ihm die Pfeife.
Nehmen Sie sie, sagte sie.
Es ist gut, wenn der Ton wieder in den Tag kommt.

Das Eisen war kühl.
Es lag in seiner Hand wie ein kurzer Atem.
Eberhart drehte die Pfeife und fühlte die Kerben.

Grete setzte sich ihm gegenüber.
Sie hielt den Blick nicht fest, sie ließ ihm Raum.
Er konnte hinein sprechen oder schweigen.

Er steckte die Pfeife an die Lippen und zögerte.
Sein Brustkorb wurde klein.
Dann blies er einen einzigen Ton.

Der Ton war hell und alt.
Er schnitt kurz durch die Luft und blieb dann weich.
Er hatte keine Schärfe, er hatte Erinnerung.

Kiesel hob den Kopf und stellte die Ohren.
Seine Augen wurden dunkel.
Er gab einen tiefen, kurzen Laut und wurde wieder still.

Die Wanduhr im Zimmer tickte gleichmäßig.
Grete sah hinüber, ohne den Kopf zu drehen.
Die Zeiger wanderten auf eine Zahl zu, die die Luft kannte.

Sechzehn Uhr siebzehn stand auf dem Zifferblatt.
Im selben Augenblick setzte sich Kiesel aufrecht an den Türrahmen.
Er blickte zum Fenster und hielt den Atem wie ein Wächter.

Grete legte die Hand auf die Tischplatte.
Sie war nicht erstaunt.
Sie nickte, als wäre ein Vereinbarter Gruß gekommen.

So war es oft, sagte sie.
Zur gleichen Minute tritt eine Stille in den Raum.
Und etwas hört mit.

Eberhart legte die Pfeife hin.
Seine Finger hatten einen leichten Abdruck.
Er sah Grete an und wartete auf einen Satz, der groß genug ist.

Sie sprach langsam.
An diesem Tag kam er heim, als hätte der Regen ihn getragen.
Er stand in der Tür und atmete, als müsste er etwas aus der Brust schieben.

Sie holte ein Glas Wasser und stellte es wieder ab.
Er sagte, die Lampe war fast fort.
Er sagte, der Hebel war schwer.

Eberhart hörte ihren Ton.
Es war nicht Klage, es war Bericht.
Es war eine Stimme, die eine Seite vorliest, die sie kennt.

Er erzählte von einem Hund, sagte Grete.
Er sagte, er habe gesehen, dass das Tier nicht weicht.
Er sagte, er habe begriffen, dass hinter dem Tier jemand ist.

Eberhart schloss kurz die Augen.
Er sah die nasse Scheibe vor sich.
Er sah den schmalen Rücken im Wasser.

Er hat gerufen, fuhr Grete fort.
Er ist gelaufen, bis ihm die Beine weh taten.
Er hat den Hebel gezogen, bis er nachgab.

Sie faltete die Hände und hielt sie ruhig.
Er kam nicht trocken davon.
Er blieb lange nass, viel zu lange.

Eberhart sah die Blechdose.
Sie gehörte zu diesem Haus wie die Uhr an der Wand.
Sie war kein Schmuck, sie war ein Beweis.

Er hatte schon vorher Husten, sagte Grete.
Ein Rest vom letzten Winter.
Nach dem Tag wurde er tief und blieb.

Sie sah in den Ofen, der nicht brannte.
Er tat so, als wäre es nichts.
Männer tun so.

Eberhart nickte kaum.
Er kannte diese Art Mut.
Er hatte sie selbst getragen wie einen zu schweren Mantel.

Grete atmete leise ein.
Er ging weiter arbeiten, lange genug, bis die Leitung sagte, er solle zu Hause bleiben.
Dann lag er auf dem Sofa und kämpfte um Luft.

Sie schwieg zwei Atemzüge.
Es wurden Wochen.
Die Ärzte gaben ihre Worte und nahmen sie auch wieder.

Eberhart legte die Hand auf die Taschenuhr.
Er spürte das Metall und darunter eine Zahl.
Der Raum wurde still und trug ihn.

Am Ende waren wir zu zweit, sagte Grete.
Ich und eine Pfeife auf dem Tisch.
Er wollte sie in Griffweite haben.

Eberhart sah auf das Eisen.
Die Gravur lag still und klar.
Sie trug keine Trauer, sie trug Pflicht.

Er sagte, zwei Seelen seien zurückgekommen, flüsterte Grete.
Ein Kind und sein Vater.
Sie habe er aus dem Wasser gehört, auch wenn er sie nicht sah.

Eberhart hob den Blick scharf.
Ein Vater, fragte er.
Grete nickte.

Der Mann stand am Widerlager, sagte sie.
Er rief und suchte und wagte nicht auf die Schienen.
Silvan hat den Ruf gehört, als er die Lampe hob.

Sie senkte die Stimme.
Er sagte auch, dass der Zug gehalten habe, weil der Mann in der Lok den Mut zur Bremse hatte.
Er sagte, Mut sehe man nicht, man spüre ihn.

Eberhart atmete langsam aus.
Seine Hände wurden warm.
Er legte die Pfeife wieder in den Beutel.

Kiesel trat einen Schritt in den Raum, als wäre die Stunde um.
Er setzte sich neben Eberharts Stuhl und legte den Kopf an sein Bein.
Sein Herz schlug ruhig.

Grete hob die Blechdose an und suchte darunter.
Sie zog ein kleines Tuch hervor, gefaltet und fest.
Vorsichtig löste sie die Knoten.

In ihrer Hand lag ein Messingschild.
Es war so groß wie zwei Daumen.
Die Kanten waren glatt, die Schrift eingeschnitten.

Sie drehte es, damit das Licht es küsste.
Eberhart beugte sich vor.
Er las die Buchstaben in seinem Kopf, bevor er sie sah.

L Rautenberg, sagte Grete.
Er hat es in der Tasche gehabt, als er wiederkam.
Er wollte es zurückgeben, wenn der Regen vorbei ist.

Eberhart fühlte die Luft schwer werden.
Das Wort lag in ihm wie ein Stein im Wasser.
Es sank langsam und fand Grund.

Grete ließ das Schild in seine Hand.
Es war warm von ihrer Haut.
Die Buchstaben glänzten, als seien sie eben erst gelegt.

Er hat es nicht mehr geschafft, sagte sie.
Der Husten blieb, der Winter kam zu früh.
Das Schild blieb hier und hat gewartet.

Eberhart schloss die Finger.
Das Messing fühlte sich an wie eine kleine Glocke.
Sie läutete nicht, aber sie war bereit.

Grete sah ihn an, ohne zu drängen.
Sie wusste, was Namen tun.
Sie wusste, wie sie Türen öffnen.

Draußen legte sich die Sonne auf die Bohnenstangen.
Eine Amsel rief kurz.
Die Wanduhr ging ungerührt weiter.

Eberhart steckte das Schild nicht ein.
Er hielt es, als müsse er zuerst reden.
Seine Stimme kam ruhig.

Ich danke Ihnen, sagte er.
Für den Ton, für das Licht, für die Namen.
Grete nickte.

Nehmen Sie alles mit, sagte sie.
Nehmen Sie die Pfeife und das Schild.
Er hat sie für den Weg bereitgelegt.

Eberhart legte das Glasstück zu den anderen Dingen.
Drei Dinge lagen da, die mehr waren als Dinge.
Zeit, Ton und Name.

Kiesel hob sich und ging zur Tür.
Er setzte sich und sah hinaus, als wüsste er, was kommt.
Seine Ohren standen wach.

Eberhart stand auf.
Er nahm Gretes Hand.
Sie war klein und stark.

Er versprach nichts mit Worten.
Er versprach mit der Art, wie er die Hand hielt.
Grete verstand.

Vor der Tür blieb er noch einen Augenblick.
Er hörte das Haus atmen.
Er hörte eine Pfeife, die nicht geblasen wurde.

Im Garten roch die Erde dunkel und gut.
Kiesel trat neben ihn und sah zur Straße.
Der Hund wartete auf den Schritt.

Eberhart ging langsam den Weg zurück.
In seiner Jacke klang eine leise Bewegung.
Es war kein Geräusch, es war eine Absicht.

Er sah die Gleise hinter den Bäumen.
Er sah die Stunde in der Luft.
Sie stand nahe und freundlich.

In seiner Hand lag das Messingschild.
Die Buchstaben wurden warm.
Sie machten einen Raum in ihm auf.

Auf dem Schild stand ein Name, der warten konnte.
L Rautenberg.
Der nächste Schritt lag bereits im Metall.

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