🐾 Teil 6: Die Briefe ohne Briefkasten
Das Haus von Eberhart Linden atmete leise.
Die Fenster standen auf Kipp, der Flur roch nach Holz und altem Wachs.
Oben unter dem Dach hing der Staub wie ein leichter Nebel.
Er zog die Bodentreppe herab und stieg hinauf.
Die Stufen gaben nach und fanden sich wieder.
Kiesel blieb unten im Flur und wartete, den Kopf im Lichtkegel.
Der Dachboden war kein Ort für Eile.
Kisten, die Namen trugen, die keiner mehr rief.
Eine Reisetasche, die nach vergangenen Bahnhöfen roch.
Eberhart kniete vor einem flachen Koffer aus Pappe.
Die Riemen knarrten, als er sie löste.
Drinnen lag Papier, das die Zeit warm gehalten hatte.
Briefe.
Ein Bündel mit Bindfaden, die Knoten fest und einfach.
Jede Ecke trug ein Jahr, jede Seite einen Atem.
Er setzte sich auf den Balkenrand und legte das Bündel auf die Knie.
Die Finger lösten den Faden, langsam wie bei einer Wunde.
Das erste Blatt war dünn, die Tinte war zu einer sanften Bläue geworden.
Sehr geehrte Familie, stand dort.
Darunter Sätze, die um Worte baten, die es nicht gibt.
Er schrieb von Bremswegen, von Regen, von der Pflicht eines Mannes an einer Maschine.
Er hatte um Verzeihung gebeten, ohne Schuld zu bekennen, die er nicht verstand.
Er hatte von Dankbarkeit geschrieben, die keine Adresse fand.
Die Unterschrift zitterte kaum.
Das nächste Blatt war an Grete Heidemann gerichtet.
Er schrieb, dass Mut einen Körper kostet.
Er schrieb, dass eine Lampe im Regen brannte, weil eine Hand blieb.
Er hatte die Briefe nicht geschickt.
Er hatte sie gefaltet, beschriftet und in diesen Koffer gelegt.
Er hatte dem Vergessen die Arbeit überlassen, damit der Tag weiterging.
Eberhart legte die Hand auf das Papier.
Es wurde warm unter der Haut, als habe dort ein kleines Tier gewohnt.
Er schloss die Augen und hörte die Wanduhr unten im Flur.
Er nahm ein drittes Blatt.
Die Anschrift war kurz und offen.
Familie Rautenberg, ohne Straße, ohne Ort.
Er las die Sätze, die er geschrieben hatte, als er ein anderer war.
Er versprach, eines Tages das Richtige zu sagen.
Er tat es nicht.
Die Stille war freundlich.
Sie war nicht leer, sie war geduldig.
Kiesel scharrte unten einmal, nur um zu sagen, dass Zeit vergeht.
Eberhart band die Briefe wieder zusammen.
Er legte das Bündel in eine Mappe und trug sie die Stufen hinunter.
Im Flur roch es nach Kaffee, obwohl keiner gekocht wurde.
In der Küche legte er die Mappe neben die Taschenuhr, die Pfeife und das Glas.
Vier Dinge, die atmeten.
Sie sahen ihn an, ohne Augen zu haben.
Er schrieb eine neue Zeile auf ein neues Blatt.
Leonie Rautenberg, sagte er halblaut, und schrieb den Namen sauber.
Er nannte den Tag, er nannte den Ort, er ließ den Platz für die Straße frei.
Die Feder suchte Halt.
Sie fand ihn in einem Satz, der still stand.
Ich habe vergessen, um weiterleben zu können.
Er legte die Feder beiseite.
Kiesel stand im Türrahmen und sah ihn an.
Die bernsteinfarbenen Augen blieben weich.
Eberhart legte die Hand auf den Hundekopf.
Das Fell war trocken, die Wärme stieg in seine Finger.
Der Hund machte einen Schritt zurück und blickte zur Hausflurtür.
Willst du hinaus, fragte Eberhart.
Der Hund drehte sich und ging voran, langsam, als würde er eine Spur lesen.
Die Uhr an der Wand war hinterhalb der vollen Stunde.
Sie gingen durch die Seitengasse zur Marktstraße.
Die Läden hatten die Türen offen, der Geruch von Brot und Obst lag in der Luft.
Kiesel zog nicht, er schlug einen Bogen, als hätte er ein Ziel.
Eberhart folgte und spürte, dass der Hund etwas wusste.
Nicht viel, nur die Richtung.
Manchmal reicht das.
Vor einer kleinen Tierhandlung blieb Kiesel stehen.
Das Schild aus Holz trug einen Namen, der einfach war.
Tierhandlung Brandt in runder Schrift.
Im Inneren roch es nach Futter und Metall.
Eine Klingel gab einen Ton, knapp und klar.
Hinter dem Tresen stand eine Frau mit arbeitswarmen Händen.
Guten Tag, sagte sie und sah zuerst den Hund an.
Ihre Augen lächelten ohne Hast.
Dann nickte sie Eberhart zu.
Er legte das Messingschild auf den Tresen.
Die Buchstaben lagen hell im Ladenlicht.
L Rautenberg.
Die Frau hob die Brauen.
Sie nahm das Schild in die Hand und drehte es gegen das Licht.
Ihre Finger wussten, wie Metall liegt.
Das ist von uns, sagte sie ruhig.
Die Tiefe der Gravur, der Schnitt, die Kante.
Ich habe das oft in der Hand.
Wie lange ist das her, fragte Eberhart.
Die Frau legte das Schild ab und holte ein schmales Heft.
Sie blätterte mit dem Daumen durch die Monate.
Die Aufträge stehen hier noch, sagte sie.
Wir schreiben nicht alles in die Kasse.
Manches gehört auf Papier.
Sie blieb an einer Seite stehen und fuhr mit dem Finger eine Zeile entlang.
L Rautenberg, sagte sie.
Leonie Rautenberg, Halsmarke für einen Hund, einmal Ersatz.
Kiesel hob den Kopf.
Sein Ohr zuckte, als hätte ein kleiner Ton die Luft geteilt.
Er setzte sich neben Eberhart und sah zum Eingang.
Die Frau legte den Kopf leicht schief.
Sie kamen regelmäßig, sagte sie.
Leckerlis, ein Halsband, ein Mittel gegen Zecken.
Kommt sie noch, fragte Eberhart leise.
Die Frau sah auf ihre Hände, dann auf den Hund, dann auf Eberhart.
Schon eine Weile nicht, sagte sie.
Sie blätterte eine Seite weiter.
Hier steht ein Vermerk.
Abholung durch den Vater, dann ein Mal der Hinweis, dass die Adresse sich ändern könnte.
Eberhart fühlte den Blick der Dinge.
Die Pfeife in seiner Tasche machte keinen Ton und war doch hier.
Die Uhr fühlte sich in der Jacke an wie ein Gedanke.
Die Frau schlug ein weiteres Heft auf.
Ein Katalog mit Bestellungen, die zugestellt wurden, wenn jemand krank war.
Sie fuhr die Spalten entlang, eine nach der anderen.
Ich weiß nicht, ob ich das darf, sagte sie und blieb mit dem Finger stehen.
Ihre Stimme war nicht abweisend, sie war vorsichtig.
Es sind Daten von Kunden.
Eberhart nickte.
Ich frage nicht nach Geheimnissen, sagte er.
Ich suche nur eine Tür.
Die Frau sah ihm in die Augen.
Sie sah, was Zeit mit einem Menschen macht, der stehen geblieben ist.
Sie sah den Hund neben ihm, der nicht drängte.
Sie legte das Heft so hin, dass er die Kante sehen konnte.
Nur für einen Atemzug.
Dann schlug sie es wieder ein Stück zu.
Eberhart hatte genug gesehen, ohne zu lesen.
Eine Zeile, ein Straßenname, eine Stadt.
Rudolstadt, Schillerstraße, eine Hausnummer.
Die Frau atmete aus.
Der Vater kam zuletzt allein, sagte sie.
Er hat zweimal eine kleine Tüte geholt und nicht viel gesagt.
Kiesel gab einen leisen Laut, fast ein Summen.
Er setzte sich nun dichter neben den Tresen, als würde er hören, was nicht gesprochen wurde.
Eberhart legte eine Hand auf seinen Rücken.
Ist der Hund krank, fragte die Frau plötzlich.
Nein, sagte Eberhart.
Er ist ein Wächter.
Die Frau lächelte kurz.
Es gibt Hunde, die halten Uhr, sagte sie.
Manche halten auch Namen.
Eberhart nickte.
Dann reichte er ihr das Messingschild zurück.
Darf ich eine Kopie, fragte er und zeigte auf die Gravur.
Sie holte Papier und einen weichen Bleistift.
Sie legte das Schild darunter und rieb mit ruhiger Hand darüber.
Die Buchstaben standen danach matt auf dem Blatt.
Danke, sagte Eberhart.
Er faltete die Kopie und steckte sie zu den Briefen.
Das Papier fühlte sich an, als trüge es schon einen Weg.
Er kaufte eine schlichte Leine.
Ein braunes Leder, das nach Arbeit roch.
Die Frau wickelte sie eng und gab sie ihm.
Draußen stand die Luft warm.
Die Marktstraße rollte langsam, als wäre sie ein Fluss.
Kiesel ging zwei Schritte voraus, blieb dann stehen und sah zu ihm zurück.
Sie gingen am Fluss entlang.
Die Saale lag flach und freundlich.
Auf dem Wasser stand ein Glanz, der noch keinen Abend hatte.
Eberhart dachte an die Briefe.
Er dachte an den Faden, der sie zusammenhielt.
Er dachte daran, dass Dankbarkeit manchmal keinen Briefkasten findet.
Er blieb an der Brücke stehen.
Der Wind kam vom Wasser und brachte eine Spur von kaltem Eisen.
Die Uhr in der Jacke blieb still.
Er zog die Mappe heraus und nahm den oberen Brief.
Er schrieb eine neue Zeile unter die alte.
Schillerstraße, Rudolstadt.
Kiesel setzte sich, so wie er sich immer setzte, wenn die Luft eine gewisse Stunde hatte.
Seine Augen gingen in die Ferne, als wäre da ein Ton.
Eberhart hörte nichts und hörte doch, dass etwas wartete.
Er steckte den Brief wieder ein.
Die Leine hing warm in seiner Hand, ohne zu ziehen.
Der Hund blieb bei ihm, so nah, dass seine Wärme blieb.
Die Sonne stand nicht mehr hoch.
Die Schatten wurden länger und machten Platz für eine andere Farbe.
Die Stadt trug sie ohne Eile.
Eberhart ging heim.
In der Küche legte er die neue Leine neben die Pfeife.
Er legte die Kopie der Gravur zur Taschenuhr.
Er zog die Mappe mit den alten Briefen zu sich.
Er löste den Faden und legte das Blatt nach oben, auf dem der neue Name stand.
Er spürte, wie die Seite den Tisch küsste.
Er schrieb keine großen Sätze.
Er schrieb, dass er kommen werde.
Er schrieb, dass er die Dinge bei Namen nenne.
Dann klappte er die Mappe zu.
Die Kante war glatt und entschlossen.
Er legte die Hand darauf und ließ sie dort ruhen.
Kiesel lag im Türrahmen und sah zu ihm herüber.
Der Hund blinzelte einmal, langsam.
Dann legte er den Kopf auf die Pfoten und atmete ruhig.
Die Uhr blieb still.
Die Zahl stand nicht auf ihr, sie stand in der Luft.
Sie war kein Befehl, sie war ein Versprechen.
Am späten Abend ging Eberhart noch einmal an den Schreibtisch.
Er zog die Quittung aus der Tasche, die die Frau ihm unbeabsichtigt mitgegeben hatte.
Sie trug eine feine Schrift und eine kleine Notiz für eine Lieferung.
Unter der Notiz stand eine Adresse, sauber und neu.
Leonie Rautenberg, Schillerstraße in Rudolstadt.
Das Papier war leicht und schwer zugleich.
Er legte die Quittung zu den Briefen.
Er legte die Pfeife daneben.
Er legte die Hand an die Taschenuhr.
Die Nacht machte das Haus leise.
Eberhart stand am Fenster und sah die dunkle Saale.
Er sagte den Namen ein einziges Mal.
Die Straße hatte einen Weg für ihn.