Der Hund und das alte Bahngleis | Die weiße Linie zwischen zwei Leben: 16:17, ein Hund, und eine Lampe im Regen brennt

🐾 Teil 7: Der Weg über den Friedhof

Am Morgen hing ein kühler Dunst über Saalfeld.
Die Linden an der Rainwiese tropften noch vom Nachtregen.
Eberhart Linden bog nicht zur Schillerstraße ab.

Er ging zum Stadtfriedhof.
Kiesel lief neben ihm, ohne zu ziehen.
Der Hund hatte einen Blick, der voraus hörte.

Das eiserne Tor war offen.
Feine Kiesel knirschten unter den Schuhen.
Der Geruch von feuchter Erde mischte sich mit altem Stein.

Eberhart trug die Mappe mit den Briefen unter dem Arm.
In der Jacke lagen Taschenuhr, Pfeife und das Glas.
Sein Schritt war ruhig, aber in der Brust ging ein kleines Pendel.

Zwischen Eiben und Buchs führten Wege, die keine Eile kannten.
Auf manchen Stelen lag Tau.
Auf manchen lagen Blumen, die den Regen geschluckt hatten.

Kiesel blieb an einer Abzweigung stehen.
Er hob die Nase und wandte sich nach links.
Eberhart folgte, als hätte er das schon immer getan.

Vor einer grauen Stele blieb der Hund sitzen.
Der Stein war schlicht und trug einen Namen.
Silvan Heidemann.

Darunter standen zwei Daten.
Kein Bild, nur ein eingraviertes kleines Rad in einer Ecke.
Jemand hatte eine rostige Schienenschraube auf den Sockel gelegt.

Eberhart kniete sich.
Seine Hand fuhr über den nassen Rand.
Ein schmaler Saum aus Moos gab nach.

Guten Morgen, sagte er leise.
Die Stimme passte zu diesem Ort.
Sie war einfach und ohne Schmuck.

Die Taschenuhr drückte gegen die Rippen.
Er nahm sie heraus und klappte sie auf.
Das Ticken trat in die Luft wie ein schüchternes Tier.

Die Zeiger standen nicht.
Sie gingen, doch jeder Blick suchte dieselbe Zahl.
Eberhart legte die Uhr auf den Stein, als lege er einen Puls ab.

Er legte auch die Pfeife daneben.
Das Eisen lag dunkel und still.
Die Gravur S H fing kein Licht, sie hielt es.

Kiesel rückte näher.
Er berührte den Sockel mit der Nase.
Dann legte er sich, den Kopf wach auf die Pfoten.

Eberhart sprach keine langen Sätze.
Er nannte den Tag und das Wasser und die Lampe.
Er nannte die Hand, die den Hebel zog.

Er sagte auch, dass Mut kostete.
Er sagte, dass er zu spät dankte.
Die Worte standen im nassen Morgen und wollten bleiben.

Ein feiner Wind kam über den Rasen.
Eine Margerite wuchs am Fuß des Steins, klein und unbeachtet.
Ihr gelbes Auge sah in den grauen Himmel.

Eberhart strich mit dem Daumen eine feuchte Spur weg.
Dann hob er die Pfeife, brachte sie an die Lippen und blies einen Ton.
Er tat es nicht laut, nur so, dass der Stein ihn hörte.

Der Ton wanderte zwischen den Hecken und fiel weich.
Kiesel hob den Kopf und setzte sich aufrecht.
Seine Ohren standen, sein Rücken wurde still.

Ein paar Gräber weiter rief eine Amsel.
Die Friedhofsuhr auf dem kleinen Gebäude schlug Viertel.
Eberhart sah auf die Taschenuhr.

Sechzehn Uhr siebzehn stand nicht auf ihr.
Aber der Gedanke stand in ihm auf.
Er legte die Uhr zurück in die Jacke.

Kiesel stand auf, ohne zu drängen.
Er sah Eberhart an und wandte sich dann langsam ab.
Der Hund führte ihn quer über die Wiese, zwischen zwei alten Birken hindurch.

Sie kamen an eine Reihe neuerer Steine.
Der Schnitt war heller, die Buchstaben scharf.
Frische Erde hing noch in den Fugen.

Kiesel blieb wieder stehen.
Er setzte sich so genau wie zuvor.
Eberhart trat näher und las.

Karl Rautenberg.
Ein Bild in Porzellan, ein Mann mit stillen Augen.
Das Datum darunter war der vorige Monat.

Jemand hatte wilde Gänseblümchen in ein Glas gestellt.
Die Stiele waren ungleich, die Blüten ungeordnet.
Sie sahen aus wie Wiesenlicht.

Eberhart spürte, wie etwas in ihm einsank und Grund fand.
Er legte die Finger an das kühle Glas mit den Blumen.
Sie gaben nach und blieben stehen.

Er nahm die Mappe und zog den Zettel mit der Schillerstraße.
Rudolstadt stand darauf und eine Zahl, die er sich gemerkt hatte.
Der Name darauf hatte lange gewartet.

Er sprach in die Stille.
Karl, sagte er, leise wie zu einem Freund.
Danke für den Ton, den ich gehört habe, als mein Fuß auf der Bremse stand.

Er legte die Pfeife nicht hierher.
Er hielt sie in der Hand, als wöge sie so wenig wie ein Atem.
Kiesel rückte dichter an den Stein.

Hinter ihm knirschte Kies.
Schritte, die nicht eilten.
Eberhart wandte sich langsam um.

Eine Frau kam den Weg herauf.
Sie trug eine schlichte Jacke und hielt einen Strauß wilder Margeriten.
Ihr Haar war zusammengebunden, ein paar Strähnen hatten sich gelöst.

Sie blieb zwei Schritte entfernt stehen.
Ihr Blick ging zuerst zu dem Hund, dann zu Eberhart.
Ihre Hände hielten die Stiele so, dass kein Saft austrat.

Guten Tag, sagte sie.
Ihre Stimme war ruhig, aber sie trug eine Last, die nicht bitter war.
Sie sah auf den Stein und dann wieder zu ihm.

Eberhart nickte.
Guten Tag, sagte er, und nannte seinen Namen.
Seine Stimme kam aus der Tiefe.

Die Frau sagte ihren Namen.
Leonie Rautenberg.
Das Wort stand zwischen ihnen wie ein Dach.

Kiesel stand auf und trat einen halben Schritt vor.
Er roch an dem Saum der Jacke und setzte sich wieder.
Sein Schweif schlug einmal den Rasen und wurde still.

Leonie beugte sich, stellte die Margeriten in das Glas und richtete ein paar Köpfe.
Ihre Finger waren sicher und sanft.
Dann sah sie zu Eberharts Brusttasche.

Tragen Sie eine Taschenuhr, fragte sie leise.
Eberhart nickte und holte sie hervor.
Das Silber fing den grauen Tag.

Leonie lächelte nicht.
Es war etwas anderes, das ihr Gesicht weich machte.
Als Kind haben Sie sie mir gezeigt, sagte sie.

Sie sagten, ich solle auf den Zeiger sehen.
Ich sollte zählen, wie er nach vorn springt.
Ich sollte atmen, bis er wieder auf derselben Zahl ist.

Eberhart hielt die Uhr offen.
Der Ton des Ticks wurde größer.
Er sah in Leonies Augen eine nasse Tiefe, die keine Tränen war.

Unter der Brücke, sagte sie.
Es roch nach Fluss und Eisen.
Sie hoben die Uhr so, dass ich nur sie sah.

Die Luft im Friedhof wurde enger.
Nicht feindlich, nur dichter.
Eberhart legte die Uhr langsam in die Handfläche.

Ich habe vieles nicht mehr gewusst, sagte er.
Er sagte es, ohne sich rechtfertigen zu wollen.
Er sagte es, als stelle er einen Stein zurück.

Leonie nickte kaum.
Mein Vater hat es gewusst, sagte sie.
Er wusste, warum er jeden Tag um dieselbe Zeit ging.

Kiesel setzte sich so, wie er es immer tat, wenn eine unsichtbare Stunde kam.
Sein Blick ging nicht zu den Menschen, sondern an ihnen vorbei.
Er sah auf einen Punkt, der in der Luft stand.

Die Friedhofsuhr schlug halb.
Ein leichter Wind bewegte die Gänseblümchen.
Sie nickten, als hätten sie etwas verstanden.

Eberhart holte die Pfeife aus der Tasche.
Er hielt sie Leonie hin.
Die Gravur lag offen.

Er hat sie oft in der Hand gehabt, sagte Leonie.
Er legte sie manchmal auf den Tisch, ohne sie zu blasen.
Er sagte, manche Töne muss man nicht hören, um sie zu kennen.

Eberhart legte die Pfeife auf den Sockel, nur für einen Atem.
Dann nahm er sie wieder.
Sie gehörte an zwei Orte, und beide waren heute hier.

Leonie strich die Blumen im Glas zurecht.
Ihre Finger zitterten nicht.
Ihr Blick blieb klar.

Er war müde am Ende, sagte sie.
Aber wenn die Uhr diese Minute zeigte, stand er auf.
Er ging, auch wenn der Atem kurz war.

Eberhart sah auf den Kiesweg.
Eine Schnecke zog eine feine Spur, die niemand trat.
Er dachte an Wege, die nur für zwei Füße und ein Tier gemacht sind.

Kiesel legte den Kopf leicht an Leonies Knie.
Sie ließ die Hand auf dem Fell ruhen.
Die Wärme ging hin und her und wurde eins.

Ich habe Briefe, sagte Eberhart.
Alte und neue.
Manche tragen Ihren Namen, manche den Ihres Vaters.

Leonie nickte.
Er hat auch Briefe, sagte sie.
Sie stehen in einem Schrank, aufrecht wie Bücher.

Die Amsel rief wieder.
Ein Fahrrad rollte draußen auf dem Weg.
Der Friedhof hielt alles, ohne etwas zu behalten.

Eberhart fühlte, dass ein Satz kommen musste.
Er musste klein sein und tragen.
Danke, sagte er, und meinte mehr als ein Wort.

Leonie sah ihn an.
In ihren Augen war keine Anklage.
Da war etwas, das Raum gab.

Sie hob den Strauß, der im Glas stand, ein wenig an und drückte die Stiele tiefer.
Die Köpfe blieben hell.
Margeriten halten Regen, wenn man sie lässt.

Eberhart klappte die Taschenuhr zu.
Der kleine Klick stand klar in der Luft.
Er passte zu diesem Ort, weil er nichts zerbrach.

Kiesel stand auf.
Er trat einen Schritt zurück und setzte sich an die Seite zwischen den Steinen.
Sein Blick blieb zwischen Himmel und Gras.

Leonie hielt ihren Mantel am Kragen.
Die Luft war nicht kalt, aber sie schloss ihn doch.
Vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht als Geste.

Sie sah Eberhart an, lange genug, damit er nicht ausweichen konnte.
Ihre Stimme kam leise und fest.
Können Sie sich die ganze Geschichte anhören.

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