🐾 Teil 9: Der Abschiedszug
Am Vormittag stand Eberhart Linden wieder vor dem alten Betriebswerk.
Die Halle roch nach Öl und Gewohnheit.
Oswin Krüger hob die Hand, als hätte er auf ihn gewartet.
Hanka Vidmar kam aus dem Nebenraum.
Sie trug eine Kiste mit Werkzeug und lächelte ernst.
Eberhart nannte die Stunde und den Ort.
Oswin nickte und stellte die Kiste auf den Tisch.
Er legte die Hand auf die alte Weichenlaterne.
Das Glas schimmerte milchig, der Docht war neu.
Hanka rief zwei Nummern an.
Ihre Stimme war kurz und klar.
Der Verein der Ruheständler antwortete, als stünden sie längst in den Stiefeln.
Sie beschlossen, eine Lok aus dem Museum für eine langsame Vorbeifahrt zu leihen.
Kein Prunk, nur genug Stahl für einen Gruß.
Die Strecke neben dem stillgelegten Gleis war frei für ein kurzes Zeitfenster.
Eberhart legte die Pfeife auf den Werkbankrand.
Die Gravur leuchtete matt.
S H stand nicht laut, aber sie trug den Raum.
Kiesel lag in der Türschwelle.
Der Hund atmete ruhig, die Augen wach.
Er schien zu zählen, ohne zu zählen.
Am Mittag fuhr ein kleiner Tieflader vor.
Zwei Männer luden Leuchten, Stative und ein paar Schilder ab.
Hanka verteilte Aufgaben, Oswin prüfte jeden Griff.
Eberhart setzte sich mit der Laterne in eine Ecke.
Er füllte ein wenig Petroleum nach und strich den Docht.
Die Handgriffe kamen ihm entgegen wie alte Freunde.
Anselm Faber kam vorbei, ohne viel zu sagen.
Er brachte eine Mappe mit Kopien.
Darauf lag das Blatt mit dem roten Stempel wie ein Herz unter dünnem Papier.
Gegen Nachmittag trugen sie die Laterne hinaus.
Die Luft war hell und mild.
Über der Saale hing ein Schleier, der kein Nebel war und doch so aussah.
Sie fuhren im Konvoi zum Kilometerstein dreiundsiebzig.
Oswin und Hanka im Wagen, Eberhart mit Kiesel zu Fuß das letzte Stück.
Der Hund suchte die Spur, als hätte der Boden eine Stimme.
Am Gleis legten sie die Laterne auf einen niedrigen Sockel.
Hanka richtete das Glas, bis es genau stand.
Oswin probierte das Zündrad und nickte zufrieden.
Leonie Rautenberg kam mit einer kleinen Mappe.
Sie trug keine Blumen.
Sie trug nur den Blick eines Menschen, der weiß, warum er da ist.
Grete Heidemann erschien langsam am Feldweg.
Sie hielt den Mantel offen und blickte einmal lang auf die Laterne.
Ihre Hände lagen ruhig aufeinander.
Ein paar Männer vom Verein stellten sich unauffällig an den Rand.
Sie sprachen wenig.
Ihre Mützen trugen das dunkle Blau der Jahre.
Eberhart holte die Taschenuhr hervor.
Die Zeiger standen nah an der Zahl.
Er hörte das Ticken nicht und wusste es doch.
Ein Funkgerät krächzte kurz.
Die Museumslok war auf dem Zubringer.
Sie würde in wenigen Minuten am benachbarten Strang vorbeikriechen.
Oswin kniete an der Laterne.
Der Docht nahm Feuer und stand klein.
Das Glas fing das Licht und machte es weich.
Die Luft wurde still.
Nicht weil der Wind schwieg, sondern weil die Menschen es taten.
Man kann Stille hören, wenn sie will.
Leonie trat neben Eberhart.
Ihre Finger hielten eine gefaltete Seite.
Sie atmete ruhig, als wolle sie die Minute nicht stören.
Grete legte die Hand an Kiesels Kopf.
Der Hund blinzelte und setzte sich an die Stelle, an der sein Körper immer zur Ruhe ging.
Seine Brust hob und senkte sich wie eine langsame Welle.
In der Ferne war ein metallisches Summen.
Dann ein kurzer Atem aus Stahl.
Die Museumslok tauchte ins Sichtfeld, klein gegen die Weite.
Der Führerstand trug zwei Gesichter, die ernst und mild waren.
Sie hoben die Hand, ohne es groß zu machen.
Die Lok rollte so langsam, als höre sie eine Geschichte.
Eberhart hob die Pfeife.
Er sah auf die Uhr.
Die Zeiger standen auf der Minute, die seit langem wartete.
Er blies keinen langen Ton.
Er setzte einen kurzen, dann ließ er Luft, dann einen zweiten.
Es klang wie ein Herz, das sich erinnert.
Die Lok antwortete mit einem leisen Pfiff.
Die Männer im Führerstand kannten die Sprache.
Der Ton flog an der Laterne vorbei und wurde warm.
Das Licht hinter dem Glas flackerte.
Nicht vor Angst, nur weil die Luft sich bewegte.
Auf dem milchigen Schirm tanzte die Farbe wie damals im Regen.
Die Schienen sangen einen dünnen Ton, obwohl sie ruhten.
Manchmal ist das Gewicht der Erinnerung genug.
Die Männer am Rand standen fester.
Leonie trat einen Schritt vor.
Sie legte den Brief auf den Boden an den Sockel der Laterne.
Ihre Hand blieb einen Augenblick auf dem Papier.
Danke, sagte sie.
Nur dieses eine Wort.
Es stand größer als alles andere in der Luft.
Eberhart nahm die Mappe mit den alten Briefen.
Er löste einen Faden, der vierzig Jahre gehalten hatte.
Er legte den Brief, der sich so lange geweigert hatte, auf die Steine neben Leonies Seite.
Es war keine Bitte mehr.
Es war eine Antwort auf etwas, das längst gegeben war.
Die Schrift stand still.
Kiesel legte sich neben die beiden Briefe.
Seine Schnauze berührte das Papier nicht.
Er schloss die Augen und atmete das Licht ein.
Die Lok glitt an ihnen vorbei.
Ihre Räder machten kaum Geräusch.
Der Führerstand zog einen Gruß aus den Augen.
Oswin stand an der Laterne.
Er schirmte die kleine Flamme mit der Hand, obwohl kein Wind wehte.
Die Glut hielt, als bekäme sie von woanders Luft.
Hanka sah auf die Uhr.
Sechzehn Uhr siebzehn lag auf dem Zifferblatt wie ein stiller Stein.
Niemand rührte sich in dieser Sekunde.
Dann wurde es wieder Tag.
Die Stimmen kehrten zurück, nicht laut, nur da.
Die Lok verschwand hinter der Biegung und ließ einen Ton zurück.
Grete trat an die Laterne und nahm die Mütze ab, die sie nicht trug.
Manchmal macht man eine Geste, die nur innen geschieht.
Ihre Augen waren trocken und weit.
Anselm stand ein wenig abseits und hielt die Mappe.
Der rote Stempel schien auf der durchscheinenden Hülle.
Er sah aus, als wäre er eben erst gesetzt worden.
Eberhart hob die Pfeife vom Sockel.
Er hielt sie einen Augenblick in die Hitze des Glases.
Das Eisen nahm die Wärme an, nicht mehr und nicht weniger.
Leonie kniete und strich die Briefe glatt.
Sie legte einen Kieselstein auf jede Ecke.
Kiesel hob kurz den Kopf, als höre er seinen Namen.
Ein feiner Dunst zog über die Saale.
Das Licht der Laterne stand wie ein kleiner Mond darin.
Die Schatten auf dem Gras wurden weicher.
Die Männer vom Verein traten zurück und sagten ein paar einfache Sätze.
Sie sprachen von Dienst und von Glück.
Sie sprachen von Namen, die weitergehen.
Oswin blies die Flamme nicht aus.
Er drehte den Docht klein, bis sie nur noch glomm.
Dann setzte er den Schirm fester.
Eberhart sah auf die Taschenuhr in seiner Hand.
Er erwartete den kleinen Trotz, den Stillstand an der Zahl.
Er wartete auf das Zögern, das ihm vertraut geworden war.
Die Uhr ging.
Der Sekundenzeiger glitt über die Minute, als sei sie eine Brücke.
Er hielt nicht an, er zog die Welt einfach mit.
Eberhart hörte nichts, doch etwas fiel von ihm.
Es war klein und hatte die Größe eines Buchstabens im Glas.
Er stand still und ließ es gehen.
Leonie nahm die Briefe auf.
Einen für Silvans Stein, einen für das Haus am Fluss.
Sie nickte Eberhart zu, ohne Worte zu suchen.
Kiesel blieb liegen, als hätte er die Arbeit eines Wächters erfüllt.
Sein Atem war gleich, sein Körper schwer und zufrieden.
Er öffnete die Augen und schloss sie wieder.
Grete trat zu Eberhart und legte ihm die Hand auf den Arm.
Sie musste nichts sagen.
In ihrer Geste lag eine leichte Wärme, die bleibt.
Hanka packte Stative und Schilder zusammen.
Oswin trug die Laterne in den Wagen, als trüge er ein Kind durch einen dunklen Flur.
Anselm schloss die Mappe, als wäre eine Tür zu.
Sie gingen gemeinsam ein Stück den Feldweg zurück.
Die Abendluft trug die Geräusche der Stadt wie kleine Boote.
Niemand drängte, niemand hielt fest.
Am Friedhof trennten sich die Wege.
Leonie bog zum Tor, Eberhart folgte mit Kiesel.
Grete blieb an der Schwelle und sah dem Licht nach.
Vor Silvans Stein legte Leonie ihren Brief ab.
Sie sprach wieder nur das eine Wort.
Dann legte Eberhart seinen alten Brief daneben.
Die beiden Seiten berührten sich an einer Ecke.
Die Margeriten am Rand nickten.
Der Stein nahm die Last an und gab sie nicht zurück.
Kiesel rollte sich auf dem Gras zusammen.
Er legte den Kopf auf die Pfoten und schloss die Augen.
Seine Ruhe füllte den Raum wie eine kleine Musik.
Eberhart hob die Uhr noch einmal.
Der Zeiger lief weich, ohne zu stocken.
Er dachte an eine Hand, die endlich loslassen durfte.
Sie verließen den Friedhof, als die Sonne das letzte Mal durch die Bäume sah.
Die Wege wurden einfacher.
Die Stadt nahm sie auf wie alte Bekannte.
Am Tor blieb Eberhart stehen.
Er spürte die Pfeife in der Tasche und das Gewicht der Uhr.
Er spürte die Leichtigkeit eines Schrittes, den er noch nicht kannte.
Die Uhr lief weiter.
Der Sekundenzeiger glitt über die Zahl, die so lange gewacht hatte.
Und irgendwo im Abend hob ein leiser Ton an, den keiner erklärte.