Der Hund und das alte Bahngleis | Die weiße Linie zwischen zwei Leben: 16:17, ein Hund, und eine Lampe im Regen brennt

🐾 Teil 10: Die weiße Linie zwischen zwei Leben

Am Morgen nach dem Abschied war die Stadt leiser.
Die Saale trug einen flachen Glanz, als hätte die Nacht etwas ausgewaschen.
Eberhart Linden saß am Küchentisch und hielt die Taschenuhr in der Hand.

Der Sekundenzeiger glitt ohne Zögern.
Kein Haken, kein kleiner Trotz.
Es war nur Zeit, die ging.

Kiesel lag im Türrahmen.
Er hob den Kopf, als die Uhr die volle Stunde streifte.
Dann legte er ihn wieder auf die Pfoten und atmete ruhig.

Eberhart stand auf und nahm die Leine.
Er tat es nicht, um den alten Weg zu gehen.
Er tat es, um einen neuen zu zeichnen.

Sie gingen zur Brücke, aber sie blieben nicht stehen.
Die Luft roch nach nassem Holz und Brot aus der Bäckerei.
Kiesel sah zum stillgelegten Gleis und sah dann zu Eberhart.

Sechzehn Uhr siebzehn war noch fern.
Er legte die Hand auf den Hundekopf.
Heute gehen wir heim zur vollen Minute.

Kiesel verstand es, ohne ein Wort zu bekommen.
Er fand einen Schritt, der keine Wache trug.
Die Straße nahm sie auf, als hätte sie auf sie gewartet.

Am Nachmittag kam Leonie Rautenberg mit einer Mappe.
Sie setzte sich an denselben Tisch, an dem die Uhr so oft stand.
Die Mappe lag leicht und entschlossen.

Wir gründen etwas, sagte sie.
Es soll den Namen tragen, der die Lampe gehalten hat.
Eberhart nickte und legte die Pfeife daneben.

Sie fuhren zur Bank.
Der Raum roch nach Papier und Glas.
Die Frau hinter dem Schalter schrieb sorgfältig, als zeichnete sie einen Fluss.

Stiftung Silvan, sagte Leonie.
Stipendien für Kinder aus Eisenbahnerfamilien.
Kurse für Hunde, die Wege hören.

Eberhart unterschrieb seinen Namen wie einen Eid.
Die Feder kratzte nicht.
Sie ging still und sicher über die Linie.

Hanka Vidmar fand einen Platz hinter dem Betriebswerk.
Ein Wiesenstreifen, eine alte Rampe, genug für Rufe und Antworten.
Oswin Krüger brachte Pflöcke und Seile.

Die ersten Kinder kamen mit großen Augen.
Ihre Schuhe trugen Schulgummi und Hoffnung.
Grete Heidemann stand am Rand und hielt die Hände ineinander.

Hanka zeigte, wie man ruft, ohne zu schreien.
Sie zeigte, wie ein Hund lernt, ein Herzschlag zu werden.
Sie zeigte, wie Stille den Mut beschützt.

Kiesel führte vor, ohne Kunststücke.
Er ging voran und blieb, wenn man ihn bat.
Er sah in Gesichter und fand den ruhigen Punkt.

Leonie schrieb Namen in eine Liste.
Anselm Faber brachte Wasser und eine Kiste mit Tüchern.
Oswin reparierte einen Karabiner und nickte den Kindern zu.

Als die Sonne sank, stand eine feine Linie Licht auf den Schienenköpfen des toten Gleises.
Sie ging nicht weit, aber sie trennte doch.
Eberhart sah sie lange an.

Am nächsten Tag holte er einen kleinen Eimer mit Kalk.
Er ging zum Abzweig, wo das Gras die Schwellen frisst.
Er setzte den Eimer ab und schaute auf den Boden.

Er zog eine weiße Spur zwischen zwei alten Strängen.
Nicht breit, nicht auffällig.
Nur eine Markierung für sein Herz.

Diese Seite ist Erinnerung, sagte er leise.
Die andere ist Gegenwart.
Dazwischen gehen wir.

Die Linie blieb, auch als der Regen kam.
Sie wurde blasser, aber nicht fort.
Manche Dinge bleiben, wenn sie gebraucht werden.

Anselm rief aus dem Archiv.
Der Lesesaal hat ein Fach für die Stiftung.
Es gibt Platz für ein Heft.

Eberhart setzte sich an den Tisch am Fenster.
Die Feder lag bereit, die Seiten rochen nach frisch.
Kiesel legte sich zu seinen Füßen.

Er schrieb die erste Zeile langsamer als alle anderen.
Er sprach sie im Kopf, bevor er sie der Seite gab.
„Kein Zug fährt nur auf Stahl, er fährt auf Dankbarkeit.“

Der Satz stand da und machte Platz.
Er trug das Heft, wie Schienen einen Wagen tragen.
Die Worte danach fanden leichter ihren Weg.

Er schrieb von Regen und Bremswegen.
Er schrieb von einem Mann mit einer Lampe.
Er schrieb von einem Hund, der auf einem Gleis stand, um Platz für Mut zu machen.

Er schrieb auch von Schuld, die keine Schuld ist.
Von einem Schweigen, das benutzt wurde, um weiterzuarbeiten.
Von einem Herzschlag, der eine Pfeife ist.

Leonie las über seine Schulter.
Manchmal hob sie den Finger und zeigte auf ein Wort.
Manchmal legte sie die Hand auf seine Schulter, nur kurz.

Grete brachte Suppe und setzte sich nicht.
Sie legte einen Löffel hin und ging wieder, als wolle sie den Raum nicht stören.
Auf ihrem Gesicht lag Licht, das nicht von draußen kam.

Am Abend trug Eberhart das Heft in den Lesesaal.
Anselm nahm es an wie eine kleine Flamme.
Er schrieb eine Signatur auf den Rücken, die einfach war.

E L Linden, Erinnerungen eines Triebfahrzeugführers.
Saalfeld und die Stunde.
Die Karteikarte glitt in eine Schublade, die leicht summte.

Ein junger Lehrling stand davor und nahm das Heft, als ihm Anselm nickte.
Er setzte sich an den langen Tisch, legte die Hände sauber hin und las.
Sein Blick wurde still.

Am nächsten Tag saß ein alter Mann an derselben Stelle.
Seine Finger rochen nach Öl.
Er strich eine Seite glatt, auf der eine Laterne stand.

Die Stiftung bekam eine Kiste mit Spenden.
Kleine Scheine, große Münzen, ein Zettel mit einem kurzen Dank.
Ein Kind legte einen flachen Stein dazu.

Hanka baute mit den Kindern eine kleine Gasse aus Kegeln.
Die Hunde lernten, langsam zu gehen, wenn die Stimme leise wird.
Kiesel lief die Spur und wartete am Ende.

Leonie schrieb die ersten Ausschreibungen.
Zwei Stipendien, verbunden mit einer Frage.
Wofür würdest du stehen bleiben, wenn es niemand sieht.

Die Antworten waren schlicht.
Für meinen Bruder.
Für eine Lampe in der Nacht.

Eberhart ging jeden Nachmittag zur weißen Linie.
Er blieb nicht.
Er sah hin, nickte und drehte sich um.

Wenn die Uhr sechzehn Uhr siebzehn erreichte, waren sie auf dem Heimweg.
Die Minute trug keinen Befehl mehr.
Sie trug ein Versprechen.

Kiesel gewöhnte sich an die neue Richtung.
Er blickte kurz zum alten Stein, dann suchte er den Schatten der Linden.
Sein Schritt war leicht.

Manchmal trafen sie Leonie am Brückenkopf.
Sie trug kein Bündel mehr, nur die Luft vor sich her.
Sie ging ein Stück mit ihnen und sprach von den Kindern.

Eines Abends blieb die Stadt stehen, wie Städte es manchmal tun.
Der Himmel war klar, die Saale war Glas.
Eberhart hielt die Uhr und hörte nichts als einen weichen Schlag.

Er machte das Heft ein zweites Mal auf.
Er schrieb eine letzte Seite, nicht lang.
Er schrieb, was bleibt.

Dank bleibt.
Namen bleiben.
Der Weg zwischen zwei Schienen bleibt, auch wenn sie niemand mehr fährt.

Er legte ein Foto in die letzte Hülle.
Es war kein Kunstbild.
Jemand hatte abgedrückt, als einer lachte und einer blinzelte.

Darauf standen drei Menschen und ein Hund.
Leonie, Eberhart und Kiesel.
Hinter ihnen die kleine Bahnhofsuhr, die in den Himmel schaute.

Die Uhr zeigte sechzehn Uhr siebzehn.
Sie machte keinen Schatten.
Sie sagte nur, dass es Zeit war, heimzugehen.

Anselm klebte die Tasche zu und stellte das Heft ins Regal.
Die Finger blieben einen Moment auf dem Rücken.
Dann ließ er los.

Oswin kam herein, roch nach Arbeit, lächelte kurz und verschwand wieder.
Hanka brachte einen Zettel mit den nächsten Kursterminen.
Grete legte eine Margerite in ein Glas am Fenster.

Eberhart stand in der Tür und sah auf die Rücken der Bücher.
Die Namen machten keine Geräusche.
Sie standen da und warteten.

Er steckte die Uhr ein und ging.
Draußen war der Tag auf halber Höhe.
Kiesel saß an der Schwelle und stand auf, als er den Schritt hörte.

Sie gingen den Fluss entlang.
Die weiße Linie lag hinter ihnen, aber sie trug sie mit.
Sie trug nicht schwer.

Als sie die Brücke passierten, blieb Eberhart kurz stehen.
Er legte die Hand auf das Geländer, nur zur Ruhe.
Die Saale antwortete mit einem kleinen Geräusch.

Zu Hause stellte er die Pfeife in eine Schale.
Daneben lag das Messingschild mit dem Namen.
Beide glänzten nicht.
Beide waren da.

Die Stiftung schickte die ersten Briefe.
Zwei junge Menschen bekamen Hilfe für eine Ausbildung in der Werkstatt.
Ein dritter bekam ein Bahnjahresticket, damit er seiner Großmutter vorlesen konnte.

Eberhart las die Antworten am Abend.
Er nickte, als er die kleinen Sätze sah.
Sie hatten die Größe, die trägt.

Als die Uhr die bekannte Minute berührte, standen er und Kiesel schon im Flur.
Die Schuhe waren neben der Matte, die Leine hing am Haken.
Er öffnete die Tür.

Sie traten ins Licht, das die Linden zwischen die Häuser warfen.
Nie wieder standen sie an der alten Stelle und riefen etwas herbei.
Sie gingen in Richtung Küche, in Richtung Tee, in Richtung ruhige Hände.

Auf der Straße roch es nach Apfel und Stein.
Ein Kind zog einen Wagen, der klapperte.
Kiesel blieb stehen und ließ sich kraulen.

Später saßen sie am Fenster.
Der Tag legte sich, ohne Eile zu haben.
Eberhart nahm die Uhr und legte sie auf das Brett.

Der Zeiger ging über sechzehn Uhr siebzehn, ohne hängen zu bleiben.
Die Zahl stand da und tat niemandem weh.
Sie war nur eine gute Minute.

Im Regal der Bahnbibliothek stand ein schmales Heft.
Es trug eine erste Spur von Händen.
Auf der letzten Seite lächelte ein Hund, der wusste, wann es Zeit ist.

Kein Zug fuhr.
Kein Horn rief.
Die weiße Linie lag still zwischen zwei alten Strängen und trennte, ohne zu schneiden.

Eberhart schloss die Augen.
Der Atem kam warm und lang.
Die Dämmerung legte ihm die Hand auf die Schulter und nannte ihn beim Vornamen.

Am nächsten Tag würde wieder einer lernen, wie man ruft, ohne zu schreien.
Die Hunde würden warten können.
Und die Dankbarkeit würde gehen, wohin sie gerufen wird.

Die Uhr auf dem Foto sagte, was sie immer sagte.
Sechzehn Uhr siebzehn.
Und zu Hause öffnete sich die Tür.

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