🐾 Teil 4: Der Brief ohne Absender
Der Schnee fiel wieder dichter, als Gertrud mit Marlo die Scheune verließ. Der Wind hatte aufgefrischt und trieb feine Kristalle wie Schleier zwischen die Bäume. Sie hielt das Bündel Rezepte fest an sich gedrückt, als könnte es ihr sonst entgleiten.
Auf dem Rückweg zur Stadt brannten ihr die Gedanken wie Feuer im Kopf. Das Gesicht des Mannes mit der Narbe ließ sie nicht los. Er hatte Margarethe gekannt, und er wusste etwas, das er nicht preisgeben wollte.
Marlo lief dicht an ihrer Seite, den Kopf gesenkt, als wüsste er, dass die Stimmung schwer war.
Als sie die Backstube erreichte, war es schon später Nachmittag. Drinnen roch es noch nach dem letzten Backgang, und die Wärme des Ofens schlug ihr entgegen. Sie legte das Bündel auf den großen Arbeitstisch, schloss die Tür und setzte sich.
Ihre Finger glitten über das Papier, über die bekannten und unbekannten Handschriften. Sie erinnerte sich an Nächte, in denen sie und Margarethe Seite an Seite standen, Teig kneteten und dabei Geschichten erzählten.
Zwischen den Rezepten lag ein gefaltetes Blatt, kleiner als die anderen, als hätte es jemand absichtlich versteckt. Gertrud öffnete es vorsichtig.
Es war ein Brief.
Kein Datum, keine Anrede. Nur wenige Zeilen:
Ich habe getan, was ich konnte. Sie sollte wissen, dass jemand über sie wacht. Wenn die Zeit reif ist, bringe ich es zu Ende.
Darunter keine Unterschrift, nur ein kleiner Strich, der wie ein halbes Kreuz wirkte.
Gertrud starrte auf die Worte. Wer hatte sie geschrieben? War es der Mann aus der Scheune? Und was sollte er „zu Ende bringen“?
Sie legte den Brief beiseite, doch ihre Gedanken blieben daran hängen wie an einem losen Faden, der tiefer in ein Geflecht führte, das sie noch nicht sehen konnte.
Am Abend ging sie zu Anna. Die Straßen waren menschenleer, der Schnee dämpfte jedes Geräusch. Anna öffnete sofort, als hätte sie auf sie gewartet.
„Kommen Sie rein, es ist bitterkalt.“
Gertrud setzte sich in die warme Küche. Sie legte das Bündel auf den Tisch, und Annas Augen weiteten sich.
„Das… das sind ihre Aufzeichnungen.“
„Gefunden in einer alten Scheune, mit Marlo als Führer.“
Anna nahm vorsichtig ein Rezept in die Hand, als hätte sie Angst, es könnte zerfallen. „Das ist ihre Handschrift. Und hier… das ist Ihre.“
Gertrud nickte. „Wir haben vieles zusammen erdacht. Aber dieses hier…“ Sie zeigte auf das Blatt mit der Überschrift „Winterbrot – für Anna“. „Das kannte ich nicht.“
Anna schwieg lange, dann legte sie das Papier zurück. „Vielleicht wollte sie, dass ich Sie finde. Vielleicht war das alles geplant.“
„Geplant? Von wem?“
„Von ihr. Oder von jemandem, der ihr nahestand.“
Gertrud überlegte. „Der Mann mit der Narbe vielleicht. Er war dort, in der Scheune. Er hat mich fortgeschickt.“
Anna hob den Kopf. „Ich habe von ihm gehört. Vor Monaten erzählte mir eine Nachbarin, dass ein Fremder nach meiner Mutter gefragt hat. Sie wusste nicht, wer er war. Aber sie sagte, er habe gewirkt, als hätte er einen Verlust zu tragen, der nicht heilt.“
Die beiden Frauen schwiegen. Nur das Ticken der Küchenuhr füllte den Raum.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Anna schließlich.
Gertrud sah zu Marlo, der sich neben dem Ofen zusammengerollt hatte. „Wir warten. Oder wir folgen der Spur.“
Am nächsten Morgen lag ein kleiner Umschlag vor der Tür der Backstube. Kein Name, keine Adresse. Drinnen ein Zettel mit nur vier Worten:
Heute Abend, Mühlrad. Allein.
Gertrud wusste sofort, von wem er war.
Sie ging den ganzen Tag ihrer Arbeit nach, doch ihre Gedanken waren längst bei dem Treffen. Als es dämmerte, zog sie den Mantel an und machte sich auf den Weg. Der Schnee hatte aufgehört, aber die Kälte biss schärfer als zuvor.
Das Mühlrad lag still, umgeben von gefrorenem Wasser. Im fahlen Licht der Laterne sah sie eine Gestalt im Schatten der Scheune.
Es war der Mann.
Er trat vor, bis das Licht sein Gesicht erfasste. Die Narbe war deutlich zu sehen, seine Augen dunkel und wachsam.
„Sie sind gekommen.“
„Sie wollten, dass ich komme.“
Er nickte langsam. „Margarethe hat mir vertraut. Mehr, als ich verdient habe. Sie wusste, dass die Zeit kommen würde, in der ich mich um etwas kümmern müsste, das sie nicht mehr konnte.“
„Und was wäre das?“
„Ihre Familie. Sie.“
Gertrud spürte, wie ihr Atem schneller ging. „Warum erst jetzt?“
„Weil Geheimnisse ihre Zeit brauchen. Manchmal ist zu frühe Wahrheit gefährlicher als Lügen.“
Sie wollte widersprechen, doch sein Blick ließ sie verstummen.
„Margarethe hat mir von Anna erzählt. Sie wollte, dass ihr euch findet, aber nicht, solange alter Groll zwischen euch stand. Sie hatte Angst, dass Sie alles ablehnen würden.“
„Und Sie? Wer sind Sie für Margarethe gewesen?“
Er schwieg einen Moment. „Jemand, der ihr mehr verdankte, als er je zurückgeben konnte. Ich schulde ihr mein Leben.“
„Und deshalb schicken Sie Brot und Zettel über einen Hund?“
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht. „Manchmal führt der Umweg schneller ans Ziel als der direkte Weg.“
Er griff in seine Manteltasche und zog einen kleinen, in Tuch gewickelten Gegenstand hervor. „Das wollte sie, dass Sie es bekommen.“
Gertrud löste das Tuch. Darin lag eine schmale Blechdose, alt und verkratzt. Als sie den Deckel öffnete, sah sie ein Foto.
Es zeigte Margarethe, jung, lachend, in einer Sommerwiese. Neben ihr ein Mann, der ihr ähnlich sah, aber älter war.
„Wer ist das?“
„Ihr Bruder.“
Gertrud schloss die Augen. „Wir hatten keinen Bruder.“
„Doch. Aber nicht im selben Haus.“
Sie öffnete die Augen und starrte ihn an. „Erklären Sie sich.“
„Nicht heute. Aber bald. Vertrauen Sie mir noch ein wenig.“
Er trat zurück, verschmolz mit dem Schatten der Scheune. „Wenn Sie bereit sind, finden Sie mich dort, wo der Bach die alte Straße kreuzt. Bringen Sie den Hund mit.“
Gertrud stand allein im Schnee, die Dose in der Hand. Marlo trat an ihre Seite und stieß sanft ihre Hand an.
In der Ferne rauschte der Wind durch die Bäume, als würde er Namen flüstern, die längst vergessen waren.