🐾 Teil 6: Die Adresse im Mehlstaub
Die Tage nach dem Treffen am Bach vergingen wie in einem seltsamen Dämmerlicht. Die Blechdose lag auf dem Regal in der Backstube, der Umschlag mit Margarethes Brief und dem Rezept darunter. Gertrud arbeitete wie immer, doch ihre Hände kneteten den Teig, während ihr Kopf weit weg war.
Anna kam oft vorbei, half beim Backen oder trank Tee in der kleinen Küche. Marlo hatte sich inzwischen seinen Platz neben dem Ofen erobert, wo er das Geschehen mit halbgeschlossenen Augen verfolgte.
An einem dieser Abende, als der Schnee draußen wieder zu fallen begann, fegte Gertrud den Mehltisch ab und stieß mit dem Handrücken gegen etwas Hartes.
Unter einer dünnen Schicht Mehl lag ein kleines Notizbuch. Der Einband war aus Stoff, der sich an den Ecken schon auflöste. Gertrud konnte sich nicht erinnern, es je gesehen zu haben.
Sie blätterte vorsichtig. Die ersten Seiten enthielten Backlisten und Mengenangaben, wie sie sie selbst oft notierte. Doch ab der Mitte änderte sich die Schrift.
Es war Margarethes Handschrift.
Zwischen den Rezepten waren Sätze eingestreut, die nichts mit Backen zu tun hatten.
„Treffen am alten Hafen.“
„Hastig gesprochen, er kommt wieder im Frühjahr.“
„Adresse merken – falls etwas passiert.“
Gertrud blätterte weiter, bis sie auf eine Seite stieß, auf der nur eine einzige Zeile stand:
Bäckerei Thomsen, Hafenstraße 12, Stralsund
Sie starrte auf die Worte, als würden sie gleich verschwinden. Der Name sagte ihr nichts, aber der Ort ließ sie aufhorchen. Stralsund lag nicht weit von Rostock, und dorthin war Margarethe damals gezogen.
Anna trat in die Backstube, wischte sich den Schnee aus dem Haar. „Was haben Sie da?“
Gertrud hielt ihr das Notizbuch hin. Anna las die Zeile und runzelte die Stirn. „Kennen Sie den Namen?“
„Nein. Aber ich glaube, wir sollten dorthin fahren.“
Anna zögerte nur kurz. „Wann?“
„Morgen früh.“
Der Morgen war klar, und der Himmel färbte sich rosa, als sie mit dem Zug Richtung Norden fuhren. Marlo lag unter der Bank, den Kopf auf den Pfoten, und schien den Rhythmus der Schienen zu genießen.
Die Fahrt war still. Jeder hing seinen Gedanken nach. Als der Zug in Stralsund einrollte, wehte ihnen salzige Luft entgegen. Der Hafen lag nicht weit, Möwen kreischten, und das Kopfsteinpflaster war vom Tau feucht.
Die Hafenstraße war schmal, gesäumt von alten Backsteinhäusern. Bäckerei Thomsen stand in goldenen Buchstaben auf einem verblassten Schild.
Drinnen roch es nach frischem Brot und Kaffee. Hinter dem Tresen stand eine Frau, vielleicht Anfang sechzig, mit wachen Augen und einem festen Händedruck.
„Kann ich helfen?“
Gertrud trat vor. „Wir suchen jemanden, der vielleicht hier gearbeitet hat. Margarethe Falkenberg.“
Die Frau hob die Augenbrauen. „Margarethe… ja, die habe ich gekannt. Ist schon viele Jahre her.“
„Wir sind Familie.“
Ein Ausdruck zwischen Überraschung und Vorsicht huschte über das Gesicht der Bäckerin. „Dann sollten Sie vielleicht mitkommen.“
Sie führte sie durch den Laden in einen kleinen Raum im Hinterhaus. An den Wänden hingen alte Schwarz-Weiß-Fotos von der Bäckerei und dem Hafen.
„Margarethe hat hier eine Zeit lang gearbeitet, kurz nachdem sie nach Rostock gezogen war. Aber sie war nicht nur zum Backen hier.“
„Was meinen Sie?“
Die Bäckerin zögerte. „Manchmal kamen Männer, die nicht aus der Gegend waren. Sie redeten leise mit ihr, und dann verschwand sie für ein paar Stunden. Fragte man sie, sagte sie, es ginge um Familie.“
Gertrud und Anna tauschten einen Blick.
„Wissen Sie, wer diese Männer waren?“ fragte Anna.
„Nein. Aber einer von ihnen war groß, dunkelhaarig, mit einer Narbe über der Augenbraue. Er kam mehrmals im Jahr. Margarethe vertraute ihm. Manchmal gaben sie sich kleine Päckchen, die ich nie geöffnet gesehen habe.“
Gertrud spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
„Hat sie je von einer Blechdose gesprochen?“
Die Bäckerin nickte langsam. „Einmal. Sie sagte, wenn sie je verloren ginge, sollte jemand sie zu ihrer Schwester bringen. Mehr nicht.“
Bevor sie gingen, reichte die Frau ihnen einen Umschlag. „Das habe ich vor Jahren gefunden, hinter einem Regal. Vielleicht gehört es zu Ihrer Geschichte.“
Draußen, im kalten Wind des Hafens, öffnete Anna den Umschlag. Drinnen war eine Postkarte, alt und an den Rändern wellig.
Darauf ein Foto des Hafens, aufgenommen von der Seeseite. Auf der Rückseite nur ein Satz in Margarethes Handschrift:
„Manche Wege führen übers Wasser.“
Darunter ein Datum: 14. Juni 1989.
Sie gingen schweigend zum Hafen. Das Wasser glitzerte im Licht der tiefstehenden Sonne, und Möwen zogen ihre Kreise. Gertrud strich mit den Fingern über das Geländer der Kaimauer, als könnte sie darin etwas spüren, das Margarethe berührt hatte.
„1989… das war kurz vor der Wende“, sagte Anna leise. „Vielleicht hat sie damals etwas geplant. Vielleicht eine Reise.“
„Oder eine Flucht“, murmelte Gertrud.
Marlo zog an der Leine und führte sie zu einem alten, verrosteten Poller. Daneben stand ein kleines Lagerhaus, dessen Fenster blind vor Staub waren.
Anna ging näher, doch die Tür war verschlossen. Auf dem Holz war ein Zeichen eingeritzt, ein halbes Kreuz.
Gertrud erstarrte. Es war dasselbe Zeichen wie unter dem Brief aus der Scheune.
„Er war hier“, sagte sie.
„Und vielleicht kommt er wieder.“
Sie beschlossen zu warten. Die Kälte kroch ihnen unter die Mäntel, aber sie hielten aus. Die Sonne sank, und das Licht wurde golden, dann grau.
Da hörten sie Schritte auf dem Pflaster.
Aus dem Schatten der Häuser trat der Mann mit der Narbe. Er blieb stehen, als er sie sah, und für einen Moment wirkte es, als wolle er umkehren.
„Sie sind mir gefolgt.“
„Wir sind dem Weg gefolgt, den Margarethe hinterlassen hat“, erwiderte Gertrud.
Er trat näher, sein Blick auf den Umschlag in Annas Hand gerichtet. „Das gehört zu einer Geschichte, die noch nicht zu Ende erzählt ist.“
„Dann erzählen Sie sie“, sagte Anna.
Der Mann schwieg lange. Dann sagte er: „Nicht hier. Das Wasser hat Ohren.“
Er deutete auf das Lagerhaus. „Treffen Sie mich morgen bei Sonnenaufgang hier. Bringen Sie alles mit, was Sie gefunden haben.“
Mit diesen Worten verschwand er wieder in den Schatten.
Gertrud stand da, den Blick auf das eingeritzte Zeichen gerichtet, und spürte, dass sie der Wahrheit näher waren als je zuvor. Aber sie wusste auch, dass der Weg von hier aus gefährlicher werden konnte.