🐾 Teil 7: Das Lagerhaus am Morgen
Der Hafen lag still im ersten Licht des Tages. Dünner Nebel schwebte über dem Wasser, und das Knarren der Taue an den Booten klang wie ein leises Atmen. Gertrud und Anna standen vor dem Lagerhaus, Marlo saß wachsam neben ihnen. In Gertruds Tasche lagen die Blechdose, das Bündel mit den Rezepten und die Postkarte mit dem Satz über die Wege übers Wasser.
Die Kälte biss in ihre Finger, doch sie hielten durch. Die Sonne kroch über den Horizont, als Schritte auf dem Pflaster zu hören waren.
Der Mann mit der Narbe trat aus dem Nebel. Sein Blick glitt kurz zu Marlo, dann zu Gertrud und Anna.
„Sie haben alles mitgebracht?“
Gertrud nickte.
Er zog einen Schlüssel aus der Manteltasche und öffnete die schwere Holztür. Das Scharnier ächzte, als wäre es seit Jahren nicht bewegt worden. Ein Geruch aus Salz, Holzstaub und alter Kohle schlug ihnen entgegen.
Drinnen war es dunkel, nur durch ein hohes Fenster fiel fahles Licht auf den Boden. Kisten standen gestapelt, manche mit verblassten Hafenstempeln aus den Achtzigerjahren.
Der Mann ging zielstrebig zu einer Ecke, wo unter einer Plane ein alter Holztisch stand. Darauf lag eine flache Metallkiste, mit einem Riegel verschlossen.
„Ihre Schwester hat das hier hinterlegt, kurz vor dem Sommer 1989“, sagte er. „Sie wollte, dass es in die richtigen Hände kommt, wenn sie selbst nicht mehr da ist.“
Er öffnete den Riegel. Drinnen lagen mehrere kleine Bündel, sorgfältig in Stoff gewickelt. Er legte sie auf den Tisch.
Im ersten Bündel war ein Stapel alter Briefe, alle an Margarethe adressiert, manche geöffnet, andere noch versiegelt. Die Absender waren verschieden, doch viele trugen Stempel aus Westdeutschland.
Das zweite Bündel enthielt Fotografien. Menschen vor einer Backstube, Kinder, die am Strand spielten, ein junger Mann mit einer Schürze, der einem Mädchen einen Brotkorb reichte.
Das dritte Bündel war das schwerste. Als Gertrud das Tuch löste, kamen mehrere kleine Goldmünzen zum Vorschein.
„Woher stammt das?“ fragte Anna leise.
Der Mann antwortete nicht sofort. „Margarethe hat für jemanden gearbeitet, der Menschen half, die Grenze zu überwinden. Diese Münzen waren Bezahlung, die nie abgeholt wurde.“
Gertrud legte die Hand auf den Tisch. „Sie war also in etwas verwickelt, das gefährlich war.“
„Ja. Aber nicht aus Geldgier. Sie wollte helfen, vor allem Familien. Sie wusste, was es heißt, getrennt zu sein.“
Anna starrte auf die Münzen, dann zu Gertrud. „Und das sollte jetzt an uns gehen?“
„Nicht das Geld. Die Briefe. Sie enthalten Namen, Geschichten. Dinge, die nicht verloren gehen dürfen.“
Gertrud zog den obersten Brief hervor. Die Handschrift war sauber und rund.
Liebe Margarethe,
wir sind angekommen. Die Überfahrt war ruhig, und wir haben eine kleine Wohnung gefunden. Ohne dich hätten wir es nicht geschafft. Ich weiß, du riskierst viel, aber ich hoffe, du weißt, was es uns bedeutet.
Unterzeichnet: Familie Meinhardt.
Gertrud legte den Brief zurück. „Das ist also der Grund für die Postkarte. Die Wege übers Wasser.“
Der Mann nickte. „Manche gingen zu Fuß, andere übers Meer. Margarethe kannte beide Wege.“
Anna sah ihn direkt an. „Warum sagen Sie uns das erst jetzt?“
„Weil es damals Leben gekostet hätte. Und weil ich nicht sicher war, ob Sie verstehen würden, warum sie so viele Jahre geschwiegen hat.“
„Ich verstehe es immer noch nicht ganz“, sagte Gertrud leise. „Aber ich sehe, dass sie ein Leben geführt hat, von dem ich keine Ahnung hatte.“
Der Mann schloss die Kiste wieder. „Diese Briefe und das Rezept gehören zusammen. Sie erzählen die Geschichte einer Frau, die nicht nur Brot gebacken hat, sondern Brücken gebaut hat.“
Marlo stand plötzlich auf, die Ohren gespitzt. Schritte hallten im Gang vor dem Lagerhaus.
Der Mann ging zum Fenster, blickte hinaus und spannte die Schultern. „Wir haben Gesellschaft.“
Gertrud trat neben ihn. Zwei Männer standen draußen, in dunklen Mänteln, die Gesichter halb verdeckt. Sie schienen den Eingang zu beobachten.
„Wer sind die?“ flüsterte Anna.
„Leute, die lieber hätten, dass manche Geschichten nicht ans Licht kommen.“
Der Mann wandte sich um. „Sie müssen jetzt gehen. Nehmen Sie die Kiste mit. Ich lenke sie ab.“
„Und was ist mit Ihnen?“ fragte Gertrud.
Er lächelte flüchtig. „Ich bin schwerer zu fassen als Sie glauben.“
Er drückte Gertrud den Schlüssel zum Lagerhaus in die Hand. „Falls Sie zurückkommen müssen, nutzen Sie ihn. Aber warten Sie nicht zu lange.“
Anna packte die Kiste, Gertrud die Tasche mit der Blechdose. Marlo trottete dicht an ihrer Seite. Sie schlichen durch einen schmalen Seitengang, der ins Freie führte.
Der Wind am Hafen war schneidend kalt. Sie bogen in eine Gasse ein und blieben erst stehen, als sie die Schritte der Fremden nicht mehr hörten.
„Glauben Sie, er kommt heil davon?“ fragte Anna.
„Ich weiß es nicht. Aber er wirkt wie jemand, der schon oft entkommen ist.“
Sie gingen zum Bahnhof, den Blick immer wieder über die Schulter gerichtet. Die Kiste fühlte sich schwerer an, als sie war, nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der Verantwortung, die darin lag.
Im Zug öffneten sie sie erneut. Marlo legte den Kopf auf Annas Knie, als wollte er verstehen, was diese Papiere bedeuteten.
„Das ist mehr als eine Familiengeschichte“, sagte Anna. „Das ist ein Stück Zeitgeschichte.“
Gertrud nickte. „Und wir müssen entscheiden, was wir damit tun.“
Als der Zug Wernigerode erreichte, lag schon wieder Schnee in der Luft. Sie gingen schweigend zur Backstube. Dort legte Gertrud die Kiste auf den Arbeitstisch und zog den Schlüssel aus der Manteltasche.
„Wir verstecken sie erst einmal. Bis wir wissen, wie wir weitermachen.“
Anna nickte. „Und wenn er sich meldet?“
„Dann hören wir zu.“
Draußen bellte Marlo kurz, als hätte er etwas gespürt.
Gertrud folgte seinem Blick. Auf der Schwelle lag ein neuer Umschlag.