Der Hund und das vergessene Rezept | Ein vergessener Hund, ein altes Rezept und das Geheimnis, das eine Familie rettet

🐾 Teil 8: Der Name im Umschlag

Der Umschlag lag still auf der Türschwelle, als hätte ihn jemand mit Bedacht dort abgelegt. Der Schnee hatte ihn nur leicht bestäubt, und die Handschrift darauf war klein, kantig und ohne Absender.

Gertrud hob ihn auf. Das Papier fühlte sich kühl an, fast wie Metall in der Winterluft. Sie schloss die Tür, während Anna den Ofen anfachte, und legte den Umschlag auf den Arbeitstisch.

Marlo setzte sich davor, den Kopf leicht schief, als würde er darauf warten, dass jemand ihn öffnete.


Gertrud löste die Lasche. Drinnen lag ein einzelnes Blatt. In der Mitte stand nur ein Name:

Erwin Hagedorn

Darunter eine Jahreszahl: 1962

Mehr nicht. Kein Gruß, kein Hinweis, keine Erklärung.

Anna runzelte die Stirn. „Sagt Ihnen das etwas?“

Gertrud schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Aber der Name klingt, als müsste ich ihn kennen.“

Sie setzte sich und starrte auf die beiden Worte, bis die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen.


„Vielleicht ist es ein Kunde von früher?“ überlegte Anna.

„Nein. Der Name ist mir nie im Laden begegnet.“ Gertrud holte die Kiste vom Regal, legte das Blatt daneben und begann, die Briefe durchzusehen.

Seite um Seite, Umschlag um Umschlag. Schließlich blieb sie an einem Brief mit einem Poststempel aus Magdeburg hängen. Das Datum war vom Frühjahr 1963.

Liebe Margarethe,
es war mir eine Ehre, dir zu helfen. Du weißt, dass mein Weg nicht einfach ist, aber ich halte mein Wort. Sollte ich je in Gefahr geraten, erinnere dich an meinen Namen. Erwin Hagedorn.


Gertrud legte den Brief auf den Tisch. „Da ist er. Er war ein Bekannter von Margarethe, vielleicht mehr. Und offenbar jemand, der ihr geholfen hat.“

Anna beugte sich vor. „Helfen… worin?“

„Das steht nicht da. Aber wenn sie ihn gebeten hat, muss es wichtig gewesen sein.“

Sie saßen lange schweigend da, nur das Knistern des Ofens und das gelegentliche Scharren von Marlos Pfoten war zu hören. Schließlich sagte Anna: „Wir sollten nach Magdeburg fahren. Vielleicht lebt er noch.“

Gertrud nickte. „Oder jemand erinnert sich an ihn.“


Am nächsten Morgen nahmen sie den ersten Zug. Die Landschaft flog als weißgraues Band am Fenster vorbei. Marlo schlief zusammengerollt auf dem Boden, seine Atmung gleichmäßig wie das Taktgefühl der Räder auf den Schienen.

Magdeburg empfing sie mit einem kalten Wind, der vom Fluss her wehte. Sie gingen zum Stadtarchiv, ein graues Gebäude, das roch wie altes Papier und Metallordner.

Eine Archivarin mit strenger Brille führte sie zu einem Tisch. „Erwin Hagedorn, geboren 1929“, las sie aus einem Register. „Verstorben 1974.“

Gertrud spürte, wie ihr ein Stück Hoffnung entglitt.


„Gibt es Hinweise auf Familie?“ fragte Anna.

Die Archivarin blätterte. „Ein Sohn. Geboren 1958. Kein aktueller Wohnsitz vermerkt, aber zuletzt in Tangermünde gemeldet.“

„Können wir diese Adresse einsehen?“

„Sie ist alt, aber ja.“ Die Frau schrieb sie auf einen Zettel und reichte ihn über den Tisch.

Sie verließen das Archiv und fuhren mit dem Bus in die kleine Stadt an der Elbe. Tangermünde wirkte, als sei es aus der Zeit gefallen. Kopfsteinpflaster, rote Backsteinhäuser, ein Turm, der über den Dächern wachte.


Die Adresse führte sie zu einem schmalen Haus am Rand der Altstadt. Das Holz der Tür war wettergegerbt, und in der Fensterscheibe spiegelte sich der graue Himmel.

Gertrud klopfte. Eine Weile geschah nichts. Dann öffnete ein Mann, vielleicht Mitte sechzig, mit schmalem Gesicht und klaren Augen.

„Kann ich helfen?“

„Suchen Sie Erwin Hagedorn?“ fragte Anna vorsichtig. „Den Jüngeren.“

„Das bin ich.“

Gertrud holte tief Luft. „Wir kannten Ihren Vater. Zumindest meine Schwester tat es. Margarethe Falkenberg.“


Etwas flackerte in seinen Augen, kaum wahrnehmbar. „Das ist lange her. Kommen Sie rein.“

Die Stube roch nach Holzrauch und altem Leder. Ein Ofen glühte in der Ecke, und an den Wänden hingen vergilbte Fotos.

„Mein Vater hat oft von einer Frau gesprochen, die ihm half, als er in Schwierigkeiten war. Er hat nie gesagt, warum, nur dass sie aus Wernigerode stammte.“

Gertrud nickte. „Das war meine Schwester.“

„Er sagte, sie habe ihm etwas anvertraut. Etwas, das er aufbewahren sollte, bis jemand käme, der ihren Namen kennt.“


Der Mann stand auf, ging zu einer Kommode und zog eine Schublade auf. Darin lag eine kleine Holzkiste.

„Ich habe sie nie geöffnet“, sagte er und reichte sie Gertrud. „Mein Vater sagte, es sei nicht für ihn bestimmt.“

Die Kiste war leicht, doch in ihrem Inneren klapperte etwas. Gertrud setzte sich, öffnete den Deckel und fand ein zusammengerolltes Stück Pergament, gebunden mit einer Schnur.

Sie löste sie und entrollte das Papier. Darauf war eine grobe Karte gezeichnet, von Hand, mit Linien, die einem Fluss folgten. Am Rand stand ein einzelnes Wort: Mühlental.


„Das kenne ich“, sagte Anna sofort. „Es liegt zwischen hier und Wernigerode, ein kleines Tal, kaum jemand fährt dort hin.“

„Und warum sollte Margarethe uns dorthin führen?“ fragte Gertrud.

Der Mann zuckte die Schultern. „Mein Vater sagte, manche Geheimnisse sind wie Brot im Ofen. Sie brauchen Zeit, um fertig zu werden. Vielleicht ist jetzt die Zeit.“

Sie bedankten sich und gingen hinaus in die klare Winterluft. Marlo lief voran, als hätte er bereits entschieden, dass sie ins Mühlental mussten.


Auf der Rückfahrt nach Wernigerode hielten sie die Karte zwischen sich. Die Linien waren ungenau, aber deutlich genug, um den Weg zu finden.

„Meinen Sie, der Mann mit der Narbe weiß davon?“ fragte Anna.

„Wenn er Margarethe so gut kannte, dann ja. Aber er hat uns nichts gesagt. Vielleicht wollte er, dass wir es selbst finden.“

„Oder er wollte, dass wir es gar nicht finden.“

Gertrud schwieg. In ihrem Bauch mischte sich Vorfreude mit einem Anflug von Furcht.


Am Abend legten sie die Karte in die Kiste mit den Rezepten und den Briefen. Der Schnee fiel nun dichter, und das Licht der Backstube war das einzige in der Straße.

Gertrud setzte sich an den Tisch, Marlo zu ihren Füßen, und spürte, dass der Weg ins Mühlental nicht nur Antworten bringen würde. Er würde auch Fragen aufwerfen, die sie vielleicht nie stellen wollte.

Draußen heulte der Wind, als wollte er ihnen sagen, dass die nächste Etappe näher war, als sie dachten.

Scroll to Top