🐾 Teil 9: Das Herz im Schnee
Der Morgen war still, als hätte der Schnee über Nacht alle Geräusche der Stadt verschluckt. Gertrud stand in der Backstube, die Karte aus der Holzkiste vor sich ausgebreitet. Die Linien waren grob, aber der Flusslauf und der Name „Mühlental“ führten klar in eine Richtung.
Anna kam herein, noch eingepackt in Schal und Mantel. „Der Wagen ist bereit. Wenn wir früh aufbrechen, sind wir vor Mittag dort.“
Marlo sprang auf, als hätte er verstanden, dass dieser Tag anders werden würde.
Die Fahrt führte sie hinaus aus Wernigerode, vorbei an Feldern, die unter einer makellosen Schneedecke lagen. Der Himmel war klar, und die Sonne warf lange, blasse Schatten über die Hügel. Nach einer Stunde wurde die Straße schmaler und schlängelte sich durch einen Wald, dessen Bäume ihre Zweige tief unter der Last des Schnees beugten.
„Hier irgendwo muss es sein“, sagte Anna, während sie die Karte im Licht der Sonne drehte. „Der Fluss auf der Karte müsste dieser Bach dort unten sein.“
Sie parkten am Rand eines schmalen Weges. Marlo sprang hinaus, die Nase tief im Schnee, und lief ein Stück voraus.
Der Pfad führte bergab, immer am Bach entlang. Das Wasser floss träge unter einer dünnen Eisschicht, und in der Luft lag ein Geruch nach Kiefernharz und kaltem Stein.
Nach einer Weile öffnete sich der Wald zu einer kleinen Lichtung. In ihrer Mitte stand eine verfallene Mühle, das Dach halb eingestürzt, die Fenster blind vor Schmutz. Das Mühlrad war von Eis umhüllt, als hätte der Winter es in einen stillen Schwur eingeschlossen.
„Das ist der Ort“, flüsterte Gertrud.
Anna ging zur Tür, die nur lose in den Angeln hing. Sie stieß sie auf, und ein Schwarm Staub wirbelte in den Lichtstrahlen auf.
Drinnen roch es nach feuchtem Holz und vergangenem Leben. Alte Säcke lagen in einer Ecke, ein Tisch stand schief am Fenster. Überall Spuren von Mäusen und Vögeln, die hier Unterschlupf gefunden hatten.
Marlo schnupperte an den Wänden, dann begann er, an einem lockeren Bretterboden zu kratzen.
„Vielleicht ist da etwas drunter“, sagte Anna.
Gertrud kniete sich hin, zog den Handschuh aus und tastete den Boden ab. Das Brett ließ sich anheben. Darunter lag ein flacher Hohlraum.
In ihm befand sich ein in Öl getränktes Tuch, fest verschnürt.
Sie trug es zum Tisch und löste die Knoten. Zum Vorschein kam eine Blechdose, ähnlich der, die sie schon hatten, aber größer und schwerer.
Der Deckel klemmte, doch mit einem kurzen Ruck öffnete Gertrud ihn. Darin lagen mehrere Dinge: ein ledergebundenes Notizbuch, eine schmale Holzkassette und ein kleines Fotoalbum.
Sie öffnete zuerst das Notizbuch. Die Seiten waren eng beschrieben, in Margarethes klarer Handschrift. Es waren keine Rezepte, sondern Aufzeichnungen – Daten, Orte, kurze Namen. Manche Einträge hatten Haken oder Kreuze daneben.
Anna blätterte weiter. „Das sieht aus wie eine Liste. Aber wofür?“
„Vielleicht für die Menschen, denen sie geholfen hat“, mutmaßte Gertrud. „Oder für die, die ihr halfen.“
Die Holzkassette enthielt einen Schlüssel, alt und schwer, mit einer Nummer am Griff: 214. Keine Erklärung, kein Ort.
Im Fotoalbum waren Bilder von Menschen, die weder Gertrud noch Anna kannten. Familien, die in Gärten standen, lachende Kinder, ein Mann mit einer Zeitung in der Hand. Auf der Rückseite mancher Fotos standen handschriftlich Orte und Jahre. Viele davon vor 1990.
Gertrud blätterte, bis sie an ein Foto kam, das ihr den Atem nahm.
Margarethe stand darauf, den Arm um einen kleinen Jungen gelegt. Sie lächelte, aber ihre Augen wirkten ernst.
Auf der Rückseite stand: „Mühlental, Sommer 1962. Für Trude, wenn die Zeit gekommen ist.“
Gertrud spürte, wie sich in ihrem Inneren etwas zusammenzog. „Das bin ich“, flüsterte sie.
Anna sah sie an. „Was meinen Sie?“
„Ich erinnere mich an den Sommer. Aber ich habe den Jungen vergessen… oder verdrängt.“
Sie setzten sich an den Tisch, das Notizbuch zwischen sich. Marlo legte sich neben sie, als wüsste er, dass dies ein Moment war, der nicht gestört werden durfte.
„Vielleicht hat der Junge etwas mit Erwin Hagedorn zu tun“, sagte Anna.
„Oder mit dem Schlüssel.“
Draußen begann es leise zu schneien. Die Flocken setzten sich auf das Eis des Mühlrads und legten sich wie ein Schleier über die Spuren, die sie hergekommen waren.
Gertrud schlug die letzte Seite des Notizbuchs auf. Dort stand nur ein einziger Satz:
„Die Antwort liegt in dem, was nie zurückgekehrt ist.“
Sie sah zu Anna. „Das klingt wie ein Rätsel.“
„Vielleicht meint sie Menschen, die gegangen sind und nie wiederkamen.“
„Oder etwas, das verloren ging und niemand zu suchen wagte.“
Gertrud schloss die Blechdose wieder und wickelte sie sorgfältig in das Tuch. „Wir nehmen alles mit. Hier lasse ich nichts.“
Der Rückweg durch den Wald war stiller als der Hinweg. Jeder Schritt knirschte im Schnee, und jeder Blick zurück zeigte die Mühle kleiner werden, bis sie schließlich zwischen den Bäumen verschwand.
Als sie den Wagen erreichten, war der Himmel bleiern und schwer. Der Wind hatte aufgefrischt, und feiner Schnee trieb über die Felder.
„Was machen wir jetzt?“ fragte Anna.
„Wir suchen heraus, wohin der Schlüssel gehört. Und wir finden den Jungen auf dem Foto.“
Marlo sprang auf den Rücksitz, den Blick wach und aufmerksam, als würde er selbst darauf warten, dass sie den nächsten Schritt taten.
Gertrud startete den Motor. „Die Zeit ist gekommen, Anna. Ich spüre es.“