Der Hund und das vergessene Rezept | Ein vergessener Hund, ein altes Rezept und das Geheimnis, das eine Familie rettet

🐾 Teil 10: Das Brot, das blieb

Der Schnee hatte in der Nacht aufgehört, und die Stadt lag unter einem weichen weißen Tuch. In der Backstube war es warm, der Duft von frisch gebackenem Roggenbrot hing in der Luft. Auf dem Arbeitstisch lag die Karte vom Mühlental, daneben die Blechdose aus der alten Mühle, das Notizbuch und der schwere Schlüssel mit der eingravierten Nummer 214.

Anna kam herein, die Wangen gerötet von der Kälte. „Ich habe im alten Stadtplanarchiv gesucht. Diese Nummer passt zu einem Schließfach im Bahnhof von Magdeburg. Die Fächer dort haben seit den Siebzigern kaum Veränderungen erfahren.“

Gertrud nickte. „Dann fahren wir heute.“


Der Zug brachte sie in wenigen Stunden dorthin. Der Bahnhof war belebt, Menschen eilten mit Koffern und Taschen, und die Lautsprecherstimme hallte zwischen den hohen Mauern. Sie gingen zu der Reihe alter Schließfächer, deren Metall stumpf und zerkratzt war.

Fach 214 stand etwas abseits, als wäre es seit Jahren nicht benutzt worden. Gertrud steckte den Schlüssel ein. Er passte. Das Schloss klickte leise, und die Tür sprang einen Spalt auf.

Drinnen lag ein schmaler Pappkarton, sorgfältig verschnürt.


Sie trugen ihn zu einer Bank in der Ecke. Anna löste die Knoten, und darunter kam ein Stapel Unterlagen zum Vorschein, sorgfältig in braunes Papier gewickelt.

Obenauf lag ein Brief in Margarethes Handschrift.

Liebe Trude,
wenn du das liest, hast du den Weg gefunden, den ich nicht selbst gehen konnte. In diesem Paket liegen die letzten Dinge, die ich für sicher hielt. Die Liste im Notizbuch sind Namen von Menschen, die auf uns vertraut haben. Manche leben noch, andere nicht. Aber jede Geschichte ist ein Teil dessen, was wir sind.

Der Junge auf dem Foto heißt Jakob. Er war wie ein Sohn für mich. Ich konnte ihn nicht behalten, aber ich konnte ihn in Sicherheit bringen. Vielleicht findest du ihn eines Tages.

Und wenn du ihn findest, backe mit ihm das Winterbrot. Er wird den Geschmack erkennen.


Gertrud hielt den Brief lange in den Händen, bevor sie die restlichen Papiere durchsah. Darunter waren Geburtsurkunden, kleine Schwarz-Weiß-Fotos und Quittungen aus verschiedenen Städten. Ganz unten lag ein weiteres, kleineres Foto: der Mann mit der Narbe, jünger, neben Margarethe, beide lächelnd.

Anna sah es ebenfalls. „Er hat also eine tiefere Rolle gespielt, als er zugegeben hat.“

„Er war Teil von dem, was sie getan hat“, sagte Gertrud. „Vielleicht mehr, als wir ahnen.“

Sie legten alles sorgfältig zurück in den Karton und verließen den Bahnhof, den Blick wachsam auf die Menschen um sie herum.


Zurück in Wernigerode war es bereits dunkel. In der Backstube legten sie die Unterlagen zu den anderen Fundstücken. Marlo lag auf dem Teppich, den Kopf auf den Pfoten, und beobachtete sie mit diesen stillen, wissenden Augen.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Anna.

Gertrud lächelte schwach. „Wir backen.“

Am nächsten Morgen stand der Ofen früh in Flammen. Sie holten das Rezept für das Sternberger Winterbrot hervor, das am Rand den Satz trug: Wer dieses Brot teilt, teilt auch das Herz.


Gemeinsam kneteten sie den Teig. Mehlstaub lag in der Luft, und das rhythmische Schlagen des Teigs auf die Arbeitsplatte erfüllte den Raum. Es war, als stünde Margarethe selbst neben ihnen.

Als das Brot im Ofen lag, setzte sich Gertrud an den Tisch und schrieb einen Brief – nicht an eine Person, sondern an alle, die Teil dieser Geschichte gewesen waren. Sie beschrieb Margarethe, ihre Wärme, ihren Mut und ihre Geheimnisse, und dass das Brot, das nun im Ofen buk, der Duft ihrer Erinnerung war.


Später, als das Brot fertig war, legten sie es auf den Tisch. Die Kruste war goldbraun, der Duft füllte den Raum mit einer Wärme, die nicht nur vom Ofen kam.

Da klopfte es an der Tür.

Ein junger Mann stand draußen, vielleicht Mitte dreißig, dunkle Haare, wache Augen. Er trug einen kleinen Rucksack und sah aus, als sei er lange unterwegs gewesen.

„Entschuldigen Sie… ich suche eine Frau namens Gertrud Falkenberg.“

Gertrud trat vor. „Das bin ich.“


Er lächelte vorsichtig. „Mein Name ist Jakob. Ich… ich glaube, Sie kannten Margarethe.“

Gertrud spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Anna trat neben sie, und Marlo stellte sich zwischen sie, als würde er spüren, dass dieser Moment wichtig war.

„Kommen Sie rein“, sagte Gertrud.

Sie setzten sich an den Tisch, das Winterbrot zwischen ihnen. Jakob erzählte von seiner Kindheit, von einer Frau, die ihn beschützt hatte, aber eines Tages fortgehen musste. Er war bei einer Familie aufgewachsen, die ihn gut behandelt hatte, doch die Erinnerungen an Margarethe waren geblieben – vor allem der Geruch eines Brotes, das er nie wieder gefunden hatte.


Gertrud schnitt ein Stück ab und legte es vor ihn. Jakob hielt es kurz in den Händen, roch daran und schloss die Augen.

„Das ist es“, flüsterte er. „Das ist genau der Duft.“

Sie aßen zusammen, und während der Abend fortschritt, erzählte Gertrud von den Briefen, den Münzen, den Namen und den Wegen übers Wasser. Jakob hörte zu, mit einem Blick, der zugleich Trauer und Dankbarkeit trug.

„Ich wusste, dass sie etwas Großes getan hat“, sagte er leise. „Aber nicht, wie groß es wirklich war.“


Als die Nacht hereinbrach, verabschiedete er sich. „Ich komme wieder“, versprach er. „Und dann backen wir gemeinsam.“

Gertrud stand noch lange an der Tür, den Blick auf die Straße gerichtet, auf der seine Schritte verklangen.

Anna legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube, Margarethe hat jetzt Ruhe.“

Gertrud nickte. „Und vielleicht wir auch.“


Am nächsten Morgen legte sie ein frisch gebackenes Winterbrot in den Schaufensterkorb. Kein Schild, kein Preis. Nur das Brot.

Die Kunden, die hereinkamen, blieben davor stehen, zogen den Duft ein und lächelten, ohne genau zu wissen warum.

Und irgendwo, tief in Gertruds Herz, wusste sie, dass dies nicht nur ein Laib Brot war. Es war das, was geblieben war und bleiben würde.

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