🐾 Teil 6: Schatten vor der Tür
Die Nacht lag schwer über der Wenkenstraße.
Hedda saß im Dunkeln, die Geige auf dem Schoß, Orfeo zu ihren Füßen.
Der Schatten, den sie gesehen hatte, ließ ihr keine Ruhe.
Sie hörte noch immer das Knacken der Schritte im Hof, obwohl längst wieder Stille herrschte.
Orfeo hob den Kopf, als lausche er Geräuschen, die ihr Ohr nicht erreichen konnte.
Sie legte die Hand beruhigend auf sein Fell, doch sie wusste, dass auch sie nicht schlafen würde.
Am Morgen war die Welt wieder gewöhnlich.
Die Bäckerin stellte Körbe mit Brötchen ins Fenster, und der Postbote grüßte mit hochgezogenen Schultern.
Doch Hedda blieb unruhig.
Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, selbst wenn niemand in der Nähe war.
Sie nahm die Geige in ihren Kasten und beschloss, ins Theater Detmold zu fahren.
Vielleicht, so hoffte sie, fände sie dort Spuren, Antworten, Erinnerungen, die sie ordnen konnte.
Orfeo begleitete sie, sprang in den Bus, als gehöre er längst zum Fahrplan.
Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde.
Vor dem Theater stieg sie aus, sah das alte Gebäude mit seiner hellen Fassade und den hohen Säulen.
Es war, als hätte die Zeit hier angehalten.
Nur sie selbst war älter geworden.
Im Foyer roch es nach Staub und Wachs.
Eine Frau am Empfangstisch sah neugierig auf die Geige, die Hedda in der Hand trug.
Kann ich Ihnen helfen, fragte sie freundlich.
Hedda nannte ihren Namen.
Die Frau runzelte die Stirn, dann blätterte sie in einem Register.
Ja, Sie standen im Orchesterverzeichnis. In den Siebzigern.
Hedda nickte, als müsse sie sich selbst daran erinnern.
Ich suche Informationen über Benedikt Wechsler, sagte sie leise.
Die Frau sah sie an, zögerte, dann verschwand sie in einem Büro.
Nach einigen Minuten kam sie zurück mit einem alten Ordner.
Darin steckten Programme, Briefe, Listen von Konzerten.
Hedda setzte sich an einen Tisch, Orfeo legte sich daneben, als gehöre er zum Inventar.
Sie blätterte langsam.
Fotos von Konzerten, Namen von Dirigenten, vergilbte Zeitungsausschnitte.
Dann, zwischen den Seiten, fand sie einen Briefumschlag.
Er war nicht verschlossen, die Schrift darauf verblasst.
An Hedda.
Die Tinte war blass, doch eindeutig seine Handschrift.
Mit zitternden Fingern öffnete sie den Umschlag.
Darin lag ein Brief, datiert auf Mai 1974.
Meine Liebe Hedda, begann er.
Wenn du dies liest, bin ich vielleicht schon fort.
Nicht weil ich es wollte, sondern weil mir die Zeit entglitt.
Sie las weiter, Tränen in den Augen.
Er schrieb von seiner Krankheit, die er verheimlichte.
Von der Reise nach Wien, die mehr ein Abschied gewesen war als ein Anfang.
Und von seiner Geige, die er ihr vermachen wollte, weil sie seine Seele getragen habe.
Orfeo hob den Kopf, als spüre er ihre Erschütterung.
Hedda legte den Brief auf den Tisch, die Hände zitterten.
Er hatte sie nicht vergessen.
Nicht in all den Jahren, nicht in seinem letzten Moment.
Die Frau vom Empfang kam näher.
Geht es Ihnen gut, fragte sie behutsam.
Hedda nickte schwach, doch sie konnte keine Worte finden.
Sie steckte den Brief behutsam zurück in den Umschlag.
Dann nahm sie ihn an sich, als wäre er das fehlende Stück ihrer eigenen Geschichte.
Der Weg zurück nach Bad Salzuflen war still.
Orfeo legte den Kopf auf ihre Knie, als wolle er sie daran erinnern, dass sie nicht allein war.
In ihrer Wohnung stellte sie die Geige neben den Brief auf den Tisch.
Sie setzte sich dazu, starrte lange auf die beiden Gegenstände.
Die Vergangenheit hatte sie eingeholt, aber nicht zerstört.
Sie fühlte, dass etwas in ihr heilte, während zugleich eine neue Unruhe wuchs.
Denn wer war der Mann im Hof gewesen.
Wer suchte nach der Geige, jetzt, nach all den Jahren.
Und warum schien es, als wolle jemand verhindern, dass sie diese Botschaften entdeckte.
Am späten Abend hörte sie wieder Geräusche im Treppenhaus.
Diesmal nicht nur Schritte, sondern ein leises Kratzen an der Wohnungstür.
Orfeo sprang auf, stellte sich davor, die Muskeln angespannt, ein tiefes Grollen in der Brust.
Hedda nahm den Brief an sich, drückte ihn an die Brust.
Sie wusste, dass die Geige nicht nur Erinnerung war.
Sie war ein Erbe, das jemand anderes ebenso begehrte.
Das Kratzen verstummte.
Dann Stille.
Doch Hedda ahnte, dass dies erst der Anfang war.
Und sie wusste, dass die Antwort auf diese Schatten irgendwo zwischen den Zeilen von Benedikts Brief verborgen lag.