🐾 Teil 8: Die verborgene Melodie
Die Nacht war still, doch Hedda konnte nicht schlafen.
Sie saß in der Küche, die Geige auf dem Tisch, den Brief daneben.
Orfeo lag auf dem Teppich, die Augen halb geschlossen, doch jedes Mal, wenn sie sich bewegte, hob er den Kopf.
Hedda strich mit den Fingern über die Saiten, ohne zu spielen.
Die Worte von Johannes Riedel hallten in ihr nach.
Gefährlich hatte er gesagt.
Aber wie konnte ein Stück Holz mit Saiten gefährlich sein.
Sie nahm den Bogen und spielte erneut die Passage, die ihr wie ein Muster erschienen war.
Ein Wechsel von Tönen, die nicht zu einer bekannten Melodie passten, aber auch nicht zufällig wirkten.
Es war, als hätte Benedikt sie absichtlich hineingeschrieben.
Immer wieder wiederholte sie die Stelle, langsamer, dann schneller, bis die Abfolge in ihr Ohr sickerte.
Sie nahm ein Notenblatt, schrieb die Töne auf.
Reihen aus Buchstaben entstanden, wie Worte, die sich hinter der Musik versteckten.
Orfeo hob den Kopf, als sie das Blatt mit zittrigen Händen auf den Tisch legte.
Ein Name schälte sich heraus.
Marienstraße 12, Bad Salzuflen.
Hedda starrte auf die Zeilen, unfähig zu glauben, was sie dort sah.
Eine Adresse, verborgen in Musik.
Sie flüsterte die Worte, als müsse sie sich selbst überzeugen.
Am nächsten Morgen packte sie den Brief in ihre Tasche, nahm Orfeo an die Seite und machte sich auf den Weg.
Die Marienstraße lag am Rand der Altstadt, eine schmale Gasse mit alten Fachwerkhäusern.
Viele standen leer, andere waren zu Ferienwohnungen geworden.
Nummer 12 war ein graues Haus mit geschlossenen Läden.
Die Fassade bröckelte, und die Tür war mit einem rostigen Schloss gesichert.
Orfeo schnupperte am Eingang, die Nackenhaare erhoben sich leicht.
Hedda stand zögernd da.
Was sollte sie hier suchen.
War es ein Irrtum, oder hatte Benedikt sie wirklich zu diesem Ort führen wollen.
Ein älterer Mann kam den Gehweg entlang, blieb stehen und sah sie an.
Sie suchen jemanden, fragte er.
Hedda schüttelte den Kopf, wollte schon gehen, da nickte er auf das Haus.
Das gehörte einmal einem Musiker, sagte er.
Wechsler hieß er. Ich erinnere mich dunkel, dass er oft Besuch hatte.
Dann schwieg er, zuckte die Schultern und ging weiter.
Hedda sah die Tür erneut an.
Die Adresse stimmte, die Erinnerung des Fremden bestätigte es.
Sie wagte nicht, hineinzugehen, aber sie spürte, dass dieser Ort ein Teil des Rätsels war.
Am Nachmittag kehrte sie heim.
Sie legte den Zettel mit der Adresse neben den Brief.
Es war, als hätte Benedikt einen Weg vorbereitet, den nur sie gehen konnte.
Doch ihre Gedanken wurden von einem Geräusch unterbrochen.
Jemand stand vor ihrer Tür.
Ein Briefumschlag wurde durch den Spalt geschoben.
Orfeo sprang auf, bellte tief, während Hedda den Umschlag vorsichtig aufhob.
Kein Absender, nur ihr Name auf der Vorderseite, hastig geschrieben.
Sie öffnete ihn mit klopfendem Herzen.
Drinnen lag ein kurzer Zettel.
Lassen Sie es ruhen, sonst verlieren Sie mehr, als Sie finden.
Ihre Hände zitterten.
Wer konnte so etwas schreiben.
War es Johannes Riedel, oder jemand, der noch tiefer in Benedikts Geschichte verstrickt war.
Die Worte brannten sich in ihr ein, aber sie wusste, dass sie nicht aufgeben konnte.
Die Geige, der Brief, die Melodie, die Adresse – alles fügte sich zu einem Bild, das sie verstehen musste.
Orfeo legte sich an ihre Füße, warm und wachsam.
Am Abend spielte sie wieder.
Die Melodie hallte durch die Räume, diesmal klarer, als ob sie endlich wusste, was sie suchte.
In den Tönen lag nicht nur Musik, sondern eine Botschaft, die durch die Jahre getragen worden war.
Sie dachte an Benedikt, an seine Augen, an seine Hände, die diese Saiten einst berührt hatten.
Er hatte ihr etwas anvertraut, über Zeit und Tod hinaus.
Und sie wusste nun, dass es nicht nur Erinnerung war, sondern ein Auftrag.
Die Geige lag am Ende still auf dem Tisch, doch Hedda spürte, dass sie lebendiger war als je zuvor.
Und als sie in der Nacht wieder Schritte im Hof hörte, wusste sie, dass die Schatten nicht eher verschwinden würden, bis sie das Geheimnis gelüftet hatte.
Sie strich Orfeo beruhigend über das Fell.
Dann flüsterte sie leise in die Dunkelheit:
Ich werde es herausfinden, Benedikt. Ich werde es bis zum Ende tragen.