🐾 Teil 9: Das Haus in der Marienstraße
Die Tage danach waren von einer ständigen Unruhe geprägt.
Hedda ging durch ihre Wohnung, als ob sie jemand beobachtete, selbst wenn niemand da war.
Der Brief mit der Drohung lag in der Schublade, doch seine Worte arbeiteten in ihr weiter.
Lassen Sie es ruhen.
Aber sie konnte es nicht ruhen lassen.
Die Geige stand da, wie ein offenes Tor, und die Melodie mit der Adresse brannte sich in ihr Gedächtnis.
An einem klaren Morgen beschloss sie, zurück zur Marienstraße zu gehen.
Diesmal nahm sie keinen Umweg, kein Zögern.
Orfeo lief dicht neben ihr, aufmerksam, mit gespitzten Ohren, als wüsste er, dass der Weg etwas Bedeutendes trug.
Das Haus Nummer 12 wirkte verlassen.
Die Fensterläden geschlossen, der Putz bröckelte, das Schloss an der Tür alt und rostig.
Hedda stand davor, spürte ihr Herz schneller schlagen.
Ein Nachbar trat aus dem gegenüberliegenden Haus, ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht.
Suchen Sie etwas, fragte er misstrauisch.
Hedda rang mit den Worten, dann antwortete sie: Ich suche Erinnerungen.
Der Mann nickte langsam.
Dann wissen Sie vielleicht, dass dieser Benedikt hier einmal gewohnt hat.
Er war ein stiller Mensch, aber viele kamen zu ihm, Musiker, Studenten, manchmal fremde Leute, die nie lange blieben.
Hedda fragte: Und was geschah danach.
Der Mann zuckte die Schultern.
Er verschwand. Und mit ihm die Musik aus diesem Haus.
Die Worte klangen nach wie ein ferner Akkord.
Hedda legte die Hand auf die alte Tür, als könnte sie spüren, was einst dahinter war.
Orfeo stand neben ihr, der Körper angespannt, der Blick wachsam.
Sie wusste, dass sie hier nicht weiterkam, ohne einen Schlüssel, ohne eine Erlaubnis.
Doch sie fühlte auch, dass Benedikt sie genau an diesen Ort führen wollte.
Vielleicht war hier der Kern des Geheimnisses verborgen.
Auf dem Rückweg setzte sie sich auf eine Bank im Park.
Sie nahm den Brief heraus, las ihn erneut.
Die Worte waren voller Trauer, aber auch voller Hoffnung.
Eines Tages wirst du wissen, warum.
Diese Zeile klang nun wie ein Versprechen.
Nicht nur Erinnerung, sondern eine Aufgabe.
In der folgenden Nacht fand sie keine Ruhe.
Sie spielte wieder die Melodie, die den Namen der Straße offenbart hatte.
Und da fiel ihr auf, dass noch mehr darin steckte.
Die Töne formten nicht nur eine Adresse, sondern auch Zahlen.
Hedda schrieb sie auf, und langsam ergab sich ein Muster.
Ein Datum, verborgen in den Noten.
- Mai 1974.
Ein Tag, den sie längst vergessen hatte, der aber in Benedikts Brief stand.
Es war der Tag, an dem er seine letzte Aufführung geben wollte, bevor die Krankheit ihn zwang, zu schweigen.
Hedda legte den Zettel neben die Geige.
Sie spürte, dass dieser Tag ein Schlüssel war.
Vielleicht war in dem Haus etwas hinterlassen worden, das seit damals auf sie wartete.
Am nächsten Morgen ging sie zur Stadtbibliothek.
Dort suchte sie in alten Zeitungen, blätterte durch vergilbte Seiten, die nach Staub und Vergangenheit rochen.
Und da fand sie es.
Ein kleiner Artikel vom 13. Mai 1974.
Konzert in Detmold abgesagt.
Der junge Geiger Benedikt Wechsler reiste unerwartet ab, Grund unbekannt.
Darunter ein Hinweis, dass er am Vortag in Bad Salzuflen gesehen worden war.
In der Marienstraße.
Hedda legte die Hand auf den Zeitungsausschnitt.
Die Bestätigung war da.
Benedikt hatte an diesem Ort seinen letzten Schritt getan.
Sie verließ die Bibliothek, den Kopf voller Fragen, den Zettel fest in der Tasche.
Orfeo wartete draußen, sprang freudig auf, als sie kam, und doch lag in seinen Augen die gleiche Unruhe, die auch sie fühlte.
Zu Hause legte sie alle Spuren nebeneinander: den Brief, die Melodie, die Adresse, das Datum.
Es war, als baue sich vor ihr eine Partitur auf, die sie erst am Ende verstehen würde.
Doch sie wusste, dass die Zeit drängte.
Der Schatten, der sie verfolgte, würde nicht ruhen.
Und wenn sie nicht den nächsten Schritt tat, würde vielleicht jemand anders das Geheimnis an sich reißen.
Sie sah Orfeo an, der ruhig auf dem Teppich lag, aber mit gespitzten Ohren.
Dann flüsterte sie: Wir gehen zurück, Orfeo. Wir gehen hinein, bevor es jemand anderes tut.
Die Nacht senkte sich über Bad Salzuflen.
Und in der Dunkelheit schien das Haus in der Marienstraße schon auf sie zu warten.