Der Hund und die alte Geige im Park | Als ein Hund sie zu einer alten Geige führte, öffnete sich ihr Herz erneut

🐾 Teil 10: Die letzte Saite

Der Abend war still, doch in Hedda rauschte alles wie ein Strom.
Sie ging die Marienstraße hinunter, Orfeo an ihrer Seite, den Geigenkasten fest an der Hand.
Die Häuser wirkten verlassen, als hätten sie den Atem angehalten.

Nummer 12 lag im Halbdunkel.
Das rostige Schloss glänzte schwach im Laternenlicht.
Hedda blieb stehen, hörte ihr Herz schlagen.
Orfeo drängte sich an ihr Bein, als wolle er sagen, dass jetzt kein Zurück mehr war.

Sie griff in die Tasche, zog eine alte Haarnadel hervor.
Ihre Schwester hatte ihr früher beigebracht, wie man damit ein Schloss öffnet.
Es dauerte, die Finger zitterten, aber schließlich klickte es leise.

Die Tür ging auf.
Ein Geruch von Staub, feuchtem Holz und längst vergangenem Leben schlug ihr entgegen.
Sie trat ein, Orfeo hinter ihr, wachsam und leise.

Im Flur lagen vergilbte Blätter.
Ein Stuhl war umgestürzt, die Tapete löste sich in Fetzen.
Doch irgendwo roch es nach Harz, nach altem Lack.

Sie fand den Weg in ein Zimmer, das einmal ein Musikraum gewesen sein musste.
Ein Notenpult stand schief in der Ecke, daneben ein zerbrochener Bogen.
Auf dem Boden lag eine Mappe, halb geöffnet, mit zerknitterten Blättern.

Hedda kniete nieder, blätterte durch die Noten.
Viele waren unvollständig, vergilbt, kaum lesbar.
Aber auf einem Blatt stand ein Titel: „Letzte Saite“.
Darunter ein Datum: 12. Mai 1974.

Orfeo bellte leise, stand an der Türschwelle, die Ohren nach hinten gelegt.
Hedda spürte, dass sie nicht allein war.
Ein Schatten bewegte sich im Flur.

Sie fuhr herum, das Herz raste.
Johannes Riedel trat ins Zimmer, die Augen dunkel, die Stimme heiser.
Sie hätten nicht hierherkommen sollen.

Hedda erhob sich, die Mappe fest in der Hand.
Was hat Benedikt hier verborgen, fragte sie.
Riedel trat näher, der Blick fest, fast verzweifelt.

Die Noten, flüsterte er.
Es ist eine Komposition, die nie gespielt werden durfte.
Benedikt wusste, dass sie mehr enthielt als Musik.
Er schrieb sein Leben hinein, seine Krankheit, seine Liebe, sein Abschied.

Hedda hielt die Blätter an sich.
Dann gehören sie mir, sagte sie mit fester Stimme.
Er hat sie mir zugedacht, nicht Ihnen.

Riedel blieb stehen, atmete schwer.
Sein Blick flackerte, dann wich er zurück.
Vielleicht, sagte er leise. Aber Sie wissen nicht, was es bedeutet, diese Töne zu spielen.

Orfeo trat einen Schritt nach vorn, stellte sich zwischen Hedda und den Mann.
Ein Laut, tief und drohend, füllte den Raum.
Riedel hob die Hände, drehte sich um und verschwand, ohne ein weiteres Wort.

Stille kehrte zurück.
Hedda stand im Raum, die Mappe in den Händen, Tränen in den Augen.
Sie wusste, dass dies das Vermächtnis war, das Benedikt für sie hinterlassen hatte.

In den nächsten Wochen arbeitete sie an den Noten.
Sie setzte sie zusammen, füllte Lücken mit Erinnerung, übte Tag für Tag.
Die Melodie war schwer, voller Brüche, doch in ihr lag ein Glanz, den sie noch nie gehört hatte.

Orfeo wich ihr nie von der Seite.
Er lag neben ihr, wenn sie spielte, und hob manchmal den Kopf, als würde er die Geschichte in den Tönen verstehen.
Die Wohnung füllte sich wieder mit Klang, nicht nur mit Erinnerung.

Eines Abends, als der Winter nahte, ging sie mit der Geige in den Park.
Das Gradierwerk dampfte, die Luft war kühl, und die Bank stand leer, wie am Anfang.
Sie setzte sich, öffnete den Kasten und begann zu spielen.

Die „Letzte Saite“ erklang zum ersten Mal.
Die Melodie trug Schmerz und Liebe, Abschied und Hoffnung.
Die Menschen, die vorbeigingen, blieben stehen, lauschten, einige mit feuchten Augen.

Für einen Moment war Benedikt wieder da.
Nicht als Schatten, sondern als Klang, der die Herzen erreichte.
Und Hedda wusste, dass sie ihm damit das zurückgab, was er ihr hinterlassen hatte.

Als die letzten Töne verklangen, legte sie den Bogen ab.
Die Stille danach war voller Wärme.
Orfeo legte den Kopf in ihren Schoß, als wäre alles erfüllt.

Hedda sah in den Himmel.
Die Wolken zogen, und zwischen ihnen brach ein Licht hervor.
Sie flüsterte: Danke, Benedikt.

Sie wusste, dass die Schatten nicht mehr zurückkehren würden.
Die Geige hatte gesprochen, die Wahrheit war gespielt.
Und in dieser Wahrheit lag kein Geheimnis mehr, nur Erinnerung.

Der Hund atmete ruhig neben ihr, die Bank war nicht mehr leer.
Die Vergangenheit hatte ihren Platz gefunden, und das Leben floss weiter.

So endete die Geschichte von einer Geige, einem Hund und einer Frau, die noch einmal lernte, den Klang der zweiten Chancen zu hören.

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