🐾 Teil 4: Flüstern im Dorf
Am Morgen lag Nebel über den Wiesen.
Die Kirchturmuhr schlug sieben, ihr Klang hallte wie ein Ruf aus einer anderen Zeit.
Ich ging mit Baltho durch die Gassen, der Hund lief dicht neben mir, aufmerksam, als hätte er selbst eine Spur aufgenommen.
Im Dorf war die Nachricht längst unterwegs, dass ich in der alten Schule gewesen war.
Man sah es in den Blicken, die die Leute mir zuwarfen, wenn ich vorbeiging.
Ein Gemisch aus Neugier, Misstrauen und einer Spur von Angst.
Vor der Bäckerei traf ich auf Frau Ebers, die Witwe des ehemaligen Bürgermeisters.
Sie stand in der Tür, das Brot im Arm, und musterte mich mit Augen, die mehr wussten, als sie zeigen wollte.
Herr Kaden, sagte sie, manche Dinge sollten ruhen.
Ich erwiderte nichts.
Manchmal ist Schweigen die einzige Antwort, die nicht sofort entzündet.
Baltho knurrte leise, kaum hörbar, und ich spürte, dass er die Spannung im Dorf genauso roch wie ich.
Am Nachmittag suchten mich Greta und Milan auf.
Sie kamen mit roten Wangen vom Laufen, doch ihre Augen waren ernst.
Herr Kaden, sagte Greta, wir wollen mehr wissen.
Ich zögerte.
Die Kinder waren jung, aber nicht blind.
Sie hatten die Schatten bemerkt, die seit Tagen über den Gassen lagen.
Wir trafen uns wieder in der alten Schule.
Das Tor quietschte, als wir es aufdrückten, und die Fenster sahen aus, als hätten sie die Nacht nicht vergessen.
Baltho ging voran, stellte sich vor die Tür des Klassenraums und wartete.
Ich erzählte den Kindern von Silvan.
Von einem Jungen, der zu leise war für eine laute Welt.
Von der Bank mit den eingeritzten Buchstaben.
Greta schlug die Hände vor den Mund.
Warum hat niemand nach ihm gefragt, flüsterte sie.
Milan starrte auf den Boden, als suche er dort eine Antwort.
Weil wir weggeschaut haben, sagte ich.
Weil wir alle dachten, er sei nur ein Kind, das keinen Lärm macht.
Doch genau das war sein Schrei.
Die Kinder schwiegen.
Nur Baltho bewegte sich, ging wieder zur dritten Bank links, als müsse er den Beweis liefern.
Er legte die Schnauze an die Lehne, verharrte und atmete schwer.
Da hörten wir Schritte.
Diesmal nicht draußen, sondern im Haus.
Sie kamen langsam den Flur entlang, ein Knarren bei jedem Schritt.
Greta klammerte sich an meinen Arm.
Wer ist da, rief ich.
Keine Antwort.
Dann öffnete sich die Tür einen Spalt, und eine Hand schob sich hindurch.
Eine alte, knochige Hand, die nach der Wand tastete.
Ich trat vor, und die Tür ging ganz auf.
Es war Frau Teschner, die Schwester des verstorbenen Dorfschulleiters.
Sie war über achtzig, das Haar schlohweiß, die Augen wässrig, aber scharf.
Sie stützte sich auf einen Stock und blickte uns an, als habe sie genau gewusst, wo sie uns finden würde.
Ihr solltet nicht hier sein, sagte sie.
Ihre Stimme zitterte, doch sie hatte Kraft.
Dies ist kein Ort für Kinder.
Aber wir müssen wissen, entgegnete Greta tapfer.
Frau Teschner sah sie lange an, dann schloss sie die Augen.
Ihr Bruder, begann sie, trug damals Verantwortung.
Die Worte hingen im Raum wie ein Seil, das gespannt wurde.
Ich erinnerte mich an den alten Direktor, ein strenger Mann mit der Angewohnheit, mit dem Lineal auf den Tisch zu schlagen.
Er hatte Silvan oft übersehen, manchmal absichtlich, manchmal aus Eile.
Er wusste, dass der Junge blieb, flüsterte Frau Teschner.
Und er schwieg, als er verschwand.
Mein Herz stockte.
Sie sprach es aus, was niemand je gesagt hatte.
Der Direktor hatte das Geheimnis getragen und mit ins Grab genommen.
Greta begann zu weinen, leise, trotzig.
Milan ballte die Fäuste.
Baltho stellte sich dicht vor uns, als wolle er uns zusammenhalten.
Was geschah mit Silvan, fragte ich.
Frau Teschner schüttelte den Kopf.
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er nicht freiwillig gegangen ist.
Die Stille danach war unerträglich.
Nur der Wind durch die zerbrochenen Fenster brachte Bewegung.
Die Vergangenheit lag schwer wie ein Stein.
Ich sah die Kinder an und wusste, dass sie mehr verstanden, als ich ihnen zumuten wollte.
Doch die Wahrheit gehörte auch ihnen.
Das Dorf durfte nicht ewig schweigen.
Wir gingen hinaus, Frau Teschner blieb zurück, als hätte sie nicht die Kraft, weiterzugehen.
Draußen fiel die Sonne flach über den Hof, das Licht golden, aber kalt.
Die Schatten waren länger geworden.
Auf dem Heimweg fragte Milan leise: Glauben Sie, Herr Kaden, dass er hier irgendwo ist.
Ich wusste keine Antwort.
Aber Baltho hob die Nase, schnupperte und stieß ein tiefes Knurren aus.
Es kam nicht aus Angst.
Es war ein Laut, der sagte: Hier ist noch etwas.
Etwas, das nicht ruht.
Als wir am Rand des Dorfes ankamen, bemerkte ich erneut den Schatten.
Diesmal war er deutlich zu sehen, am Zaun neben dem Obstgarten.
Eine Gestalt, die sofort zurückwich, als ich hinsah.
Ich blieb stehen, das Heft fest unter dem Arm.
Die Kinder drängten mich weiter.
Doch ich wusste, dass die Vergangenheit nicht nur in alten Papieren lebte.
Sie hatte Beine.
Sie folgte uns.
Und sie wollte verhindern, dass wir sie ans Licht holten.
Die Wahrheit ging neben uns her – unsichtbar, aber bereit, jeden Schritt zu stören.