🐾 Teil 5: Das Heft spricht
In dieser Nacht konnte ich kaum schlafen.
Der Wind schlug gegen die Fensterläden, und jedes Knacken des Gebälks ließ mich aufschrecken.
Baltho lag am Fußende meines Bettes, die Augen geschlossen, doch ich wusste, er wachte.
Auf dem Tisch neben mir lag das Heft, und es war, als strahlte es eine eigene Wärme aus.
Ich stand auf, zündete die Lampe an und schlug es auf.
Die Schrift war krumm, manchmal kaum lesbar, doch jede Zeile schnitt mir ins Herz.
„Sie sehen mich nicht. Ich sitze da, ich schreibe, ich höre, aber ich bin wie Luft.“
So begann eine Seite.
Ich las sie dreimal, bis mir die Worte wie eine Anklage ins Ohr schrien.
Die Seiten erzählten von Tagen voller Schweigen.
Von Pausen, in denen die anderen Kinder lachten, während er allein blieb.
Von einem Hund, den er Welpe nannte, den er aber nicht mit nach Hause nehmen durfte.
Ich stockte.
Ein Hund.
War es möglich, dass dieser Hund Baltho war, damals, vor fast dreißig Jahren.
Nein, unmöglich.
Baltho war höchstens neun Jahre alt, sein Fell glänzte noch, die Muskeln waren kräftig.
Aber vielleicht war er Nachkomme eines Hundes, den Silvan gekannt hatte.
Ich legte die Hand auf Balthos Rücken.
Er schlug die Augen auf und sah mich an, so tief, dass ich glaubte, er wisse mehr als jedes geschriebene Wort.
Am Morgen ging ich mit dem Heft zu Greta und Milan.
Wir setzten uns im alten Schulgarten auf die morsche Bank, und ich las ihnen einige Sätze vor.
Greta weinte still, während Milan die Lippen fest aufeinanderpresste.
„Er war doch nur ein Kind“, sagte Greta schließlich.
„Warum hat niemand geholfen?“
Ich hatte keine Antwort.
Da hörten wir Schritte hinter uns.
Ein Mann näherte sich, groß, kräftig, mit breiten Schultern.
Es war Ralf Teschner, der Neffe der alten Frau, ein Bauer, dessen Hof gleich hinter dem Obstgarten lag.
„Ihr wühlt in Dingen, die vergraben bleiben sollen“, sagte er ohne Begrüßung.
Seine Stimme war hart, die Augen kalt.
„Mein Onkel hat genug gelitten, und wir alle mit ihm.“
„Ihr Onkel?“ fragte ich vorsichtig.
„Der Schulleiter“, antwortete er knapp.
„Er war streng, ja, aber gerecht. Ihr macht ihn schlecht, indem ihr alte Geschichten aufwärmt.“
Greta ballte die Fäuste.
„Es geht nicht darum, jemanden schlechtzumachen“, rief sie.
„Es geht darum, Silvan nicht zu vergessen.“
Ralf trat einen Schritt näher, doch Baltho stellte sich zwischen uns.
Sein Knurren war tief, ein Laut, der keinen Zweifel ließ.
Ralf hielt inne, seine Augen blitzten, dann wandte er sich ab.
„Lasst es ruhen“, sagte er noch einmal, dann ging er mit schnellen Schritten davon.
Die Kinder atmeten hörbar aus.
Ich spürte, dass der Widerstand größer war, als ich gedacht hatte.
Am Abend saß ich wieder allein in meinem Haus.
Ich las weiter im Heft und stieß auf eine Seite, die wie ein Hilferuf war.
„Wenn ich eines Tages verschwinde, dann sucht mich hier. Unter der Bank. Dort, wo ich zum ersten Mal etwas von mir hinterlassen habe.“
Mein Herz schlug schneller.
Hatte ich damals nicht schon etwas in der Bank gefunden?
Das Foto, den Brief. Aber vielleicht war da noch mehr.
Ich beschloss, noch in derselben Nacht zurückzugehen.
Baltho erhob sich, als wüsste er, dass nun die Stunde kam.
Wir nahmen den Weg über die Felder, der Mond stand hell über den Bergen.
Die Schule wirkte im Mondlicht wie ein stiller Wächter.
Ich schob die Tür auf, das Holz ächzte.
Drinnen roch es nach Staub und kaltem Stein.
Baltho ging direkt zum Klassenraum.
Er stellte sich vor die Bank, die dritte von links.
Seine Nase berührte die Stelle unter der Klappe, an der das Holz gesprungen war.
Ich kniete mich nieder, fuhr mit den Fingern über die Ritze.
Und da spürte ich es.
Ein Hohlraum, der größer war, als ich gedacht hatte.
Mit Mühe schob ich das Holz zur Seite.
Es knirschte, als gäbe es nur widerwillig nach.
Dann öffnete sich eine kleine Kammer.
Darin lag ein Bündel, fest in Stoff gewickelt.
Meine Hände zitterten, als ich es herausnahm.
Der Stoff war feucht und roch nach Erde.
Ich wickelte ihn vorsichtig auf.
Zum Vorschein kam ein Schulheft, dünn, mit Wasserflecken, und daneben ein Stück Holzspielzeug.
Ein kleiner Kreisel, bunt bemalt, die Farbe längst abgeblättert.
Mir schossen Tränen in die Augen.
Dieses Spielzeug konnte nur Silvan gehört haben.
Es war, als hätte er selbst seine Kindheit hier begraben, um nicht ganz vergessen zu werden.
Baltho legte die Schnauze darauf, schloss die Augen und verharrte still.
Ich verstand, dass wir nicht am Ende waren, sondern erst am Anfang.
Draußen hörte ich ein Geräusch.
Jemand hatte die Tür aufgestoßen.
Schwere Schritte hallten durch den Flur.
Jemand trat ein und diesmal wusste ich, dass er nicht nur Schatten war.