🐾 Teil 9: Die Spur
Wir rannten in den Hof hinaus.
Die Nacht lag schwer auf den Mauern der alten Schule, der Mond stand wie ein blasser Wächter über den Bäumen.
Von Milan war keine Spur.
„Milan!“ rief Greta mit zitternder Stimme.
Ihr Ruf hallte durch den Hof, verhallte in den dunklen Ecken, ohne Antwort.
Nur der Wind antwortete, indem er die Kastanienblätter über das Pflaster fegte.
Baltho hatte bereits die Nase am Boden.
Seine Muskeln spannten sich, die Rute war starr, die Augen funkelten.
Dann setzte er sich in Bewegung, schnell, zielstrebig, als wäre jeder Schritt eine Zeile in einem unsichtbaren Buch.
Wir folgten ihm durch den Seitenausgang hinaus ins Gras.
Die Männer aus dem Dorf drängten sich hinter uns, flüsterten, riefen, doch niemand wagte, die Führung zu übernehmen.
Nur Baltho wusste, wohin.
Der Weg führte in Richtung der alten Obstwiesen.
Die Äste warfen gespenstische Schatten, und jeder Laut klang lauter, als er war.
Greta hielt meine Hand fest, als fürchte sie, in der Dunkelheit zu verschwinden.
Plötzlich bellte Baltho.
Vor uns lag Milans Jacke, achtlos im Gras zurückgelassen.
Greta stürzte vor, hob sie auf, drückte sie an sich.
„Er war hier,“ flüsterte sie.
Ihre Augen suchten meinen Blick, voller Panik.
Ich legte ihr die Hand auf die Schulter, auch wenn meine eigene Angst kaum zu bändigen war.
Wir folgten der Spur weiter.
Baltho schnupperte, lief, blieb stehen, bellte, rannte wieder.
Seine Energie trug uns voran, wie eine unsichtbare Kraft.
Der Weg führte zum Waldrand, dorthin, wo die Fichten wie schwarze Türme standen.
Der Boden war weich, Spuren schwer zu erkennen.
Doch Baltho fand sie, Schritt für Schritt.
Dann hörten wir ein Geräusch.
Ein leises Schluchzen, irgendwo im Dunkeln.
„Milan!“ rief Greta wieder, diesmal voller Hoffnung.
Wir rannten auf den Laut zu.
Zwischen zwei Bäumen hockte Milan, die Knie an die Brust gezogen, das Gesicht nass vor Tränen.
Baltho war zuerst bei ihm, stupste ihn an, leckte ihm übers Gesicht.
Greta fiel neben ihn, umarmte ihn, als wolle sie ihn nie mehr loslassen.
„Was ist geschehen?“ fragte ich.
Milan brauchte einen Moment, dann hob er den Kopf.
„Da war jemand,“ flüsterte er.
„Er packte mich am Arm, zog mich weg. Aber Baltho kam. Er knurrte so laut, dass der Mann losließ und verschwand.“
Seine Augen waren weit, voller Schrecken, doch auch voller Vertrauen in den Hund.
Ich atmete tief durch.
„Du bist jetzt sicher,“ sagte ich, mehr zu mir selbst als zu ihm.
Aber in meinem Inneren wusste ich, dass die Gefahr noch nicht vorbei war.
Wir gingen zurück zur Schule, langsam, erschöpft.
Die Männer des Dorfes folgten schweigend, keiner wagte, Fragen zu stellen.
Die Dunkelheit wirkte schwerer als zuvor.
Im Klassenraum lag immer noch das Kästchen in der Mauer.
Es wartete, als hätte es die ganze Zeit geahnt, dass wir zurückkommen würden.
Ich trat vor, diesmal entschlossener, und holte es heraus.
Der Rost bröckelte unter meinen Fingern.
Mit Mühe öffnete ich den Deckel.
Drinnen lagen Papiere, vergilbt, doch lesbar.
Es waren Briefe.
Angefangene, nie abgeschickte Briefe von Silvan.
Er schrieb über seine Angst, über das Gefühl, verfolgt zu werden.
Ein Brief war deutlich anders.
Die Schrift war unsauber, fast hastig.
„Er droht mir. Wenn ich rede, dann…“ Der Rest war unlesbar, verwischt, als hätten Tränen die Tinte zerlaufen lassen.
Aber ein Wort war klar, tiefer eingeritzt als geschrieben: „Direktor.“
Die Männer starrten auf die Papiere.
Niemand sprach.
Selbst Ralf stand schweigend, die Hände zu Fäusten geballt, das Gesicht fahl.
„Das ist der Beweis,“ sagte ich leise.
„Silvan hat Angst gehabt. Er hat gewusst, dass er bedroht wird.“
Greta hielt Milans Hand, beide standen dicht an meiner Seite.
Ihre Gesichter wirkten alt in diesem Moment, älter, als es Kindergesichter je sein sollten.
Aber in ihren Augen brannte die Gewissheit, dass die Wahrheit ans Licht kommen musste.
„Wir können das nicht mehr verstecken,“ fuhr ich fort.
„Nicht vor uns selbst, nicht vor unseren Kindern, nicht vor der Geschichte dieses Dorfes.“
Da klang eine Stimme von hinten.
„Und wenn die Wahrheit alles zerstört?“
Es war Ralf. Seine Augen glitzerten, und zum ersten Mal sah ich nicht nur Zorn darin, sondern auch Angst.
„Vielleicht muss etwas zerstört werden,“ antwortete ich.
„Damit etwas Neues wachsen kann.“
Ein schweres Schweigen legte sich über den Raum.
Nur Balthos Atem war zu hören, ruhig und fest, als sei er der einzige, der keine Angst vor der Wahrheit hatte.
Doch plötzlich krachte ein Fenster ein.
Ein Stein flog in den Raum, Glas splitterte auf den Boden.
Draußen hörte man schnelle Schritte, die in die Nacht davonliefen.
Jemand wollte uns warnen oder uns endgültig zum Schweigen bringen.