🐾 Teil 6: Der Klang auf dem Markt
Der Morgen brach grau und kühl an. Nebel hing über den Dächern von Quedlinburg, und die Pflastersteine glänzten noch vom Regen der Nacht. Friedrich stand früh auf, seine Hände zitterten leicht, als er Wasser für den Kaffee aufsetzte. Er hatte kaum geschlafen, die Drohung Rainers schwebte über ihm wie ein Schatten.
Corvin lag vor der Tür, aufmerksam, die Ohren gespitzt. Der Hund hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, als wüsste er, dass der kommende Tag Gefahr brachte.
Elise kam kurz nach Sonnenaufgang. Sie trug ein dunkles Kleid, schlicht, aber ordentlich, und hielt die Geige behutsam in der Hand, als sei sie ein zerbrechlicher Schatz. Ihre Augen waren ernst, doch in der Tiefe brannte ein Feuer, das Friedrich lange nicht mehr in ihr gesehen hatte.
„Bist du bereit?“ fragte er.
Sie nickte. „Ich weiß nicht, was geschehen wird. Aber ich weiß, dass die Geige heute ihre Stimme erheben muss.“
Gemeinsam gingen sie durch die Gassen. Der Markt war bereits im Aufbau. Händler stellten Stände auf, Bretter klapperten, Stimmen mischten sich mit dem Schnauben von Pferden. Der Geruch von frischem Brot, geräuchertem Fleisch und Äpfeln hing in der Luft.
Friedrich führte Elise zu einem freien Platz am Brunnen. Dort stellte er einen einfachen Stuhl auf, den er von zu Hause mitgebracht hatte. Menschen blieben neugierig stehen, manche erkannten Elise, andere kannten nur Friedrich als alten Geigenbauer.
„Sie wird spielen“, murmelte jemand. „Habt ihr gehört? Die Frau mit der alten Geige.“
Elise setzte sich, legte das Instrument an ihr Kinn. Für einen Moment war es still. Selbst die Händler hielten inne, als spürten sie, dass etwas Besonderes geschehen würde.
Dann strich sie den Bogen über die Saiten. Ein einzelner Ton, klar und hell, füllte den Platz. Der Klang schwebte über den Markt, legte sich wie ein Schleier über Stimmen und Geräusche.
Sie spielte eine Melodie aus ihrer Jugend, ein Lied, das Friedrich kannte. Es war warm und zugleich voller Wehmut, als erzähle es von all den Jahren, die vergangen waren, von Liebe, die verloren schien, und Hoffnung, die wieder aufblühte.
Die Menschen blieben stehen, mehr und mehr drängten sich heran. Alte Frauen hielten die Hände gefaltet, junge Männer schauten ernst, Kinder setzten sich auf den Rand des Brunnens und lauschten mit großen Augen.
Friedrich stand an ihrer Seite, sein Herz pochte. Er wusste, dass dieser Augenblick wichtig war. Die Stadt musste Zeuge sein, dass diese Geige nicht einem habgierigen Mann gehörte, sondern der Musik, die sie trug.
Corvin lag dicht vor Elise, den Blick wachsam über die Menge schweifend.
Als das letzte Stück verklang, war es still auf dem Platz. Niemand rührte sich, bis ein älterer Mann zu klatschen begann. Bald folgte die Menge, und der Applaus brandete über den Markt, wie Donner, der von den Häuserwänden widerhallte.
Elise senkte die Geige, Tränen standen in ihren Augen. „Ich habe nie gedacht, dass ich noch einmal so spielen würde.“
Friedrich legte eine Hand auf ihre Schulter. „Du hast die Herzen der Menschen erreicht. Niemand wird es wagen, dir das Instrument zu nehmen.“
Doch genau in diesem Moment trat Rainer aus der Menge. Er war allein, doch sein Gesicht war hart wie Stein.
„Schön gespielt“, rief er laut, sodass alle es hören konnten. „Aber das ändert nichts. Diese Geige gehört meiner Familie. Sie war das Vermächtnis meines Bruders.“
Ein Raunen ging durch die Menge. Einige Menschen blickten fragend, andere schüttelten die Köpfe. Elise erhob sich, die Geige noch immer in den Händen.
„Diese Geige hat mein Vater mir geschenkt“, sagte sie klar und deutlich. „Sie gehört nicht dir, Rainer. Und sie gehört auch keinem Geld. Sie gehört den Tönen, die aus ihr sprechen. Und die gehören allen, die zuhören.“
Die Menschen nickten, manche riefen zustimmend. Doch Rainer ließ sich nicht beeindrucken. „Worte ändern nichts. Ich werde sie nehmen, ob ihr es wollt oder nicht.“
Er trat einen Schritt vor, doch da stellte sich Friedrich ihm in den Weg. „Nicht heute. Nicht hier. Die Stadt hat gehört, wem diese Geige gehört.“
Corvin erhob sich, ein tiefes Knurren rollte durch seine Kehle. Die Menge murmelte, einige Männer traten vor, als wollten sie Elise und Friedrich schützen.
Rainer ballte die Fäuste, doch er sah, dass er allein war. Sein Blick glitt über die Gesichter der Menschen, die sich gegen ihn stellten. Schließlich wandte er sich abrupt ab und verschwand zwischen den Ständen.
Ein Aufatmen ging durch den Platz. Menschen klopften Friedrich auf die Schulter, andere gratulierten Elise. Sie spielte noch ein Stück, diesmal heller, freier, und der Markt füllte sich mit Freude.
Doch in Friedrichs Brust blieb die Unruhe. Er kannte den Blick, den Rainer ihm im letzten Moment zugeworfen hatte. Es war kein Ende gewesen, sondern ein Versprechen.
Am Abend gingen sie zurück zur Werkstatt. Elise war erschöpft, aber glücklich. „Heute haben wir gezeigt, dass er uns nicht einschüchtern kann.“
Friedrich nickte, doch er schwieg. Corvin lief dicht neben ihm, die Muskeln gespannt, als wüsste er, dass der Kampf noch nicht vorbei war.
In der Werkstatt legten sie die Geige zurück auf die Werkbank. Der Schein des Ofens ließ das Holz warm aufglühen. Elise setzte sich, Friedrich stellte ihr eine Tasse Tee hin.
„Vielleicht gibt er jetzt auf“, sagte sie vorsichtig.
„Vielleicht“, antwortete Friedrich. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass Rainer nicht der Mann war, der aufgab.
Die Nacht senkte sich. Elise schlief bald in einem Sessel ein, die Geige fest an sich gedrückt. Friedrich sah sie lange an. In ihr lag all das, was er verloren und vielleicht wiedergefunden hatte.
Corvin lag vor der Tür, wachsam wie immer. Draußen fiel der Regen leise, ein gleichmäßiges Tropfen, das fast beruhigend wirkte.
Doch als Friedrich aufstand, um Holz nachzulegen, bemerkte er etwas. Ein Schatten huschte am Fenster vorbei, schnell und lautlos. Er fröstelte, trat näher, sah hinaus.
Im Regen stand Rainer. Diesmal war er nicht allein. Zwei Gestalten bewegten sich hinter ihm, kaum sichtbar im Dunkel. Sie starrten direkt auf die Werkstatt.
Friedrich wusste, dass die nächste Nacht nicht nur von Musik erfüllt sein würde, sondern von Gefahr, die sie alle verschlingen konnte.