Der Hund und die verlorene Geige | Ein herrenloser Hund, eine verbrannte Werkstatt und eine Geige, die eine alte Liebe zurückbringt

🐾 Teil 8: Der Gegenschlag

Die Werkstatt roch noch nach Blut und zerbrochenem Holz, als der Morgen graute. Friedrich saß am Tisch, die Hände um eine Tasse kalten Kaffees geschlossen, den er nicht trank. Elise schlief unruhig im Sessel, die Geige an ihre Brust gedrückt. Corvin lag davor, als wolle er sie mit seinem ganzen Körper beschützen.

Friedrichs Gedanken kreisten. Er wusste, dass Rainer nicht aufgeben würde. Zu viel Hass, zu viel Gier brannte in dessen Augen. Wenn er jetzt wartete, würde Rainer wiederkommen, und beim nächsten Mal vielleicht mit noch mehr Männern, vielleicht mit Waffen.

Er stand auf, trat ans Fenster. Die Straßen von Quedlinburg waren still. Ein paar Kinder rannten über das Pflaster, Händler bauten ihre Stände auf. Nichts deutete darauf hin, dass Gefahr drohte. Aber Friedrich fühlte sie. Unsichtbar, wie ein Messer im Rücken.

Als Elise erwachte, sah sie ihn an. Ihre Augen waren gerötet, aber klar. „Wir können nicht ewig so weiterleben“, sagte sie leise.

„Nein“, antwortete er. „Wir müssen ihm entgegentreten. Ihn entwaffnen, bevor er uns zerstört.“

Sie schwieg lange, strich mit der Hand über den Lack der Geige. „Und wie?“

Friedrich setzte sich neben sie. „Mit dem, was wir haben. Mit der Musik. Er versteht nur Gewalt, doch die Stadt hat schon gehört, was die Geige sagen kann. Wenn wir sie alle Zeugen machen, wenn wir Rainer zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen, dann verliert er.“

Elise blickte ihn nachdenklich an. „Du meinst ein Konzert? Offiziell, für alle?“

Er nickte. „Morgen ist Sonntag. In der Kirche. Wenn die Geige dort erklingt, vor Gott und den Menschen, dann kann er sie nicht entreißen, ohne sein Innerstes zu entblößen. Er kann nicht gegen die Augen der ganzen Stadt ankämpfen.“

Sie schwieg. Dann lächelte sie schwach. „Dann spiele ich.“

Friedrich fühlte zum ersten Mal seit Tagen einen Funken Hoffnung.

Den Rest des Tages verbrachte er damit, die Werkstatt aufzuräumen. Splitter, Blutspuren, zerbrochenes Glas – alles musste verschwinden. Er wollte nicht, dass Elise in diesem Chaos bleiben musste. Corvin wich ihm nicht von der Seite, seine Augen hellwach, immer in Richtung Tür gerichtet.

Am Abend kam der Pfarrer vorbei, ein alter Mann mit gebeugtem Rücken, aber klarer Stimme. Friedrich erzählte ihm, was geschehen war. Der Pfarrer schwieg lange, sah dann Elise an. „Die Kirche hat immer Platz für Musik. Morgen soll sie klingen. Und mögen die Töne stärker sein als jede Drohung.“

Die Nachricht verbreitete sich schnell. Am nächsten Morgen war die Kirche voll. Menschen drängten sich in die Bänke, alte Frauen, Männer mit rauen Händen, Kinder, die sich an ihre Mütter klammerten. Alle wussten, dass es mehr war als ein Konzert. Es war eine Entscheidung.

Elise stand am Altar, schlicht gekleidet, die Geige in den Händen. Friedrich saß in der ersten Bank, Corvin lag zu seinen Füßen. Die Sonne fiel durch die farbigen Fenster, warf Muster auf die Wände, als hätte das Licht selbst beschlossen, Teil des Geschehens zu sein.

Als Elise den Bogen hob, wurde es still. Kein Husten, kein Rascheln, nur gespannte Erwartung. Dann erklang der erste Ton.

Er war weich und doch kraftvoll, getragen von all den Jahren, die vergangen waren. Elise spielte nicht nur eine Melodie, sie spielte ihr Leben. Die Jugend, die verloren geglaubte Liebe, die Trauer, die Rückkehr. Jeder Ton erzählte, und die Kirche atmete mit.

Friedrich hörte nicht nur Musik. Er hörte seine eigene Vergangenheit. Er sah sich als junger Mann, wie er ihr lauschte. Er fühlte Ilse, seine verstorbene Frau, die einst mit einem Lächeln neben ihm gestanden hatte. Und er sah Elise jetzt, älter, verletzlicher, aber stärker als je zuvor.

Die Menschen weinten. Manche schlossen die Augen, andere hielten sich an den Händen. Der Klang der Geige füllte jeden Winkel, als würde er Mauern durchdringen und Herzen öffnen.

Doch dann geschah es.

Die Kirchentür wurde aufgestoßen. Rainer trat ein. Diesmal allein, doch seine Präsenz war bedrohlicher als je zuvor. Er blieb im Gang stehen, starrte nach vorn. Niemand wagte, sich zu bewegen.

Elise hörte nicht auf zu spielen. Ihre Finger zitterten, doch sie ließ den Bogen gleiten. Der Klang wurde noch klarer, fast trotzig.

Rainer ging langsam den Mittelgang entlang. Seine Schritte hallten wie Hammerschläge. Friedrich stand auf, Corvin neben ihm, bereit. Doch Elise schüttelte kaum merklich den Kopf. „Lass mich“, formten ihre Lippen.

Der Fremde blieb vor ihr stehen. Die Musik schwoll an, erfüllte den Raum, drängte sich gegen seinen kalten Blick. Für einen Augenblick wirkte es, als könne selbst er nicht widerstehen.

Doch dann streckte er die Hand aus. „Genug. Gib sie mir.“

Die Menge hielt den Atem an. Elise spielte weiter. Ein Ton, noch einer, eine Melodie, die stärker war als jedes Wort. Rainer verzog das Gesicht, packte nach dem Instrument.

Da sprang Corvin vor, ein Donnern von Fell und Zähnen. Rainer wich zurück, verlor das Gleichgewicht, stürzte gegen die Bank. Menschen schrien auf, Kinder weinten, doch niemand rührte sich, um ihm zu helfen.

Friedrich trat nach vorn, die Stimme laut und klar. „Seht ihr es? Er will nicht die Musik. Er will nur Macht. Ist das der Mann, dem wir unsere Stimmen geben?“

Die Menschen murmelten, dann erhoben sie sich. Ein Dutzend Männer schob sich vor, stellte sich zwischen Rainer und Elise. Der Klang der Geige füllte noch immer die Kirche, hell, rein, unzerstörbar.

Rainer stand schwer atmend da, die Augen voller Hass, doch er sah, dass er allein war. Mit einem Fluch drehte er sich um und stürmte hinaus. Die Tür schlug hinter ihm zu, und der Nachhall vermischte sich mit den letzten Tönen der Melodie.

Die Kirche war still. Dann brandete Applaus auf, stärker, mächtiger als am Markttag. Menschen weinten, riefen ihren Namen, manche streckten die Hände nach Elise aus, als hätten sie etwas Heiliges erlebt.

Friedrich sah sie an. Sie stand dort, die Geige in den Händen, Tränen auf den Wangen, und doch wirkte sie wie eine Königin.

Aber tief in ihm wusste er, dass es noch nicht vorbei war. Rainer war gedemütigt worden, vor aller Augen. Und ein Mann wie er würde das nicht hinnehmen.

Als die Kirche sich leerte, trat der Pfarrer zu ihnen. „Ihr habt mehr getan, als Musik zu spielen. Ihr habt die Stadt an ihre Seele erinnert. Aber passt auf. Solche Männer schlagen zurück, wenn sie alles verloren glauben.“

Friedrich nickte. Er wusste es längst.

Am Abend saßen sie wieder in der Werkstatt. Elise war erschöpft, doch ein Glanz lag in ihren Augen. „Ich habe nicht mehr geglaubt, dass ich so etwas noch erleben darf.“

Friedrich legte seine Hand auf ihre. „Und es war erst der Anfang.“

Doch draußen, in den dunklen Gassen, brannte ein anderes Feuer. Rainer stand im Schatten, die Hände zu Fäusten geballt, die Augen voller Zorn.

„Wenn sie mir die Geige nicht geben“, murmelte er, „dann nehme ich ihnen alles.“


Friedrich ahnte nicht, dass Rainer längst beschlossen hatte, nicht mehr nur das Instrument anzugreifen, sondern ihr ganzes Leben.

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