Der Hund und die verlorene Geige | Ein herrenloser Hund, eine verbrannte Werkstatt und eine Geige, die eine alte Liebe zurückbringt

🐾 Teil 10: Der letzte Ton

Das Messer blitzte im Feuerschein, und für einen endlosen Moment schien die Welt stillzustehen. Friedrich sah, wie die Klinge sich näherte, wie Elises Augen sich weit öffneten, wie Corvin mit einem einzigen Sprung alles veränderte.

Der Hund warf sich in die Bahn des Stiches. Ein Knurren, ein Aufprall, ein Schrei. Die Klinge riss durch Fell und Haut, nicht durch Elises Brust. Corvin heulte auf, aber er wich nicht zurück. Mit aller Kraft warf er Rainer zu Boden, presste ihn in den Schlamm.

Friedrich stürzte vor, riss das Messer aus Rainers Hand und schleuderte es fort. Rainer rang keuchend, doch er war geschwächt, seine Kräfte von Hass verzehrt. Corvin hielt ihn fest, Blut rann aus seiner Seite, aber seine Zähne ließen nicht los.

„Genug!“ brüllte Friedrich, seine Stimme übertönte den Sturm. „Es reicht, Rainer! Sieh dich an! Du kämpfst nicht mehr um eine Geige. Du kämpfst gegen dein eigenes Herz.“

Rainer keuchte, seine Augen flackerten zwischen Wut und Leere. Dann sackte er in sich zusammen. Nicht tot, aber gebrochen.

Friedrich zog Corvin von ihm weg. Der Hund schwankte, seine Flanke blutete stark. Elise kniete sofort neben ihm, Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Halt durch, Junge, halt durch.“

Friedrich wusste, dass sie keine Zeit verlieren durften. „Wir müssen ihn zum Arzt bringen. Sofort.“

Sie banden notdürftig ein Stück Stoff um Corvins Wunde, dann trugen sie ihn durch den Regen, weg von den Flammen, die die Werkstatt verschlangen. Hinter ihnen krachte das Dach endgültig zusammen, Funken stiegen in den Himmel wie der letzte Atemzug des Hauses.

Die Nacht war endlos. Sie brachten Corvin zu einem Tierarzt am Rande der Stadt, der sie sofort hineinließ, als er das Blut sah. Stundenlang saßen Friedrich und Elise im Wartezimmer, die Hände ineinander verschränkt, schweigend, nur das Pochen ihrer Herzen im Ohr.

Als der Morgen graute, trat der Arzt heraus. Sein Gesicht war ernst, aber nicht ohne Hoffnung. „Es war knapp. Sehr knapp. Aber er hat einen starken Willen. Wenn er durchhält, dann nur, weil er leben will.“

Elise sank ihm erleichtert in die Arme. Friedrich spürte Tränen auf seinen Wangen, die er nicht mehr zurückhielt.

Rainer wurde noch in derselben Nacht von der Polizei abgeführt. Einige Männer aus der Nachbarschaft hatten ihn bewusstlos im Schlamm gefunden. Niemand in der Stadt stellte sich auf seine Seite. Er war allein.

Für Friedrich und Elise begann ein neues Leben. Die Werkstatt war zerstört, aber in den Ruinen stand noch ein Teil der alten Werkbank. Aus den verkohlten Resten sammelte Friedrich, was zu retten war. Er begann langsam neu, in einem kleinen Raum, den ihm ein Nachbar zur Verfügung stellte.

Die Geige aber hatte überlebt. Elise hielt sie in den Händen, als wäre sie ein Herz, das immer noch schlug. Sie spielte in den Tagen nach dem Brand oft, nicht für die Menge, sondern für Corvin, der auf einer Decke lag und langsam genas.

Die Töne waren leiser geworden, vorsichtiger, aber sie hatten eine Tiefe, die Friedrich nie zuvor gehört hatte. Jeder Ton war Dank, war Gebet, war Liebe.

Wochen vergingen. Der Hund lernte wieder zu gehen, humpelnd zuerst, dann sicherer. Die Narbe blieb, doch sie machte ihn nur würdiger. Wenn er Elise spielen hörte, legte er sich neben sie, die Augen halb geschlossen, als lausche er einem Geheimnis, das nur für ihn bestimmt war.

Friedrich saß oft daneben, und wenn er sie ansah, spürte er etwas, das er lange verloren geglaubt hatte. Keine Jugendliebe mehr, keine Sehnsucht nach vergangenen Jahren. Sondern ein stilles, tiefes Band, das in der Gegenwart wurzelte.

Eines Abends, als die Sonne hinter den Dächern versank und die Luft nach Frühling roch, legte er seine Hand auf ihre. „Wir haben so viel verloren“, sagte er leise. „Aber vielleicht haben wir das Wichtigste gefunden.“

Elise nickte, Tränen glitzerten in ihren Augen. „Wir haben einander wiedergefunden. Und solange die Geige klingt, wird nichts wirklich verloren sein.“

Friedrich schloss die Augen, lauschte dem Klang, der durch das Fenster hinaus in die Stadt strömte. Menschen blieben stehen, hoben den Kopf, ließen sich von der Melodie tragen.

Es war kein Konzert mehr, keine Schlacht, kein Beweis. Es war einfach Musik. Rein und frei.

Und in diesem Moment wusste Friedrich, dass Rainer nie verstanden hätte, was er versucht hatte zu rauben. Denn die Geige war mehr als ein Stück Holz. Sie war Erinnerung und Liebe, Schmerz und Heilung, und niemand konnte das je zerstören.

Corvin legte den Kopf auf seine Knie, schwer, warm, treu. Friedrich strich ihm durch das Fell, spürte die Narbe unter den Fingern, und er lächelte.

Die Jahre würden weitergehen, die Schatten der Vergangenheit würden nie ganz verschwinden. Doch sie hatten überlebt. Mehr noch: Sie hatten einen neuen Anfang gefunden.

Und in der Werkstatt, die sie Stück für Stück wieder aufbauten, erklang wieder Musik. Nicht nur Töne, sondern Leben.

Als Elise eines Abends ein altes Lied spielte, das er seit Jugendtagen kannte, legte Friedrich die Hand auf die Werkbank, fühlte das Holz unter seiner Haut. Er wusste, dass dies der Klang war, den er immer gesucht hatte.

Nicht perfekt, nicht makellos. Sondern ehrlich, verwundet, und dennoch voller Schönheit.

Es war der letzte Ton der Vergangenheit und der erste eines neuen Lebens.


Und während die Geige sang und der Hund mit geschlossenen Augen lauschte, wusste Friedrich, dass manche Melodien niemals enden, sondern für immer in den Herzen weiterklingen.

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